Die Evangelistin
diesem theologischen Irrgarten auskannte!
Entschlossen klappte ich den Folianten zu und bat Menandros, mir sein Pferd zu satteln. Sein besorgtes »Bitte, Celestina, sei vernünftig! Geh ihn nicht suchen!« schlug ich in den Wind und machte mich auf einen Weg, der nicht weit war, aber doch der längste meines Lebens wurde.
Die Zeit der Siesta war schon vorbei, und die Sonne neigte sich nach Westen, doch noch immer waren die Gassen Venedigs wegen der Sommerhitze menschenleer.
Während ich über den Campo San Stefano und an der Kirche vorbeiritt, fragte ich mich: Wo sollte ich ihn suchen?
Er war uns in der Gasse zwischen dem Campo San Angelo und dem Campo San Luca entgegengekommen, offenbar auf dem Weg nach Hause.
Dann kam ich an der Stelle vorbei, wo Menandros und ich überfallen worden waren. Die Leichen der Attentäter und das tote Pferd waren weggebracht worden, doch ihr Blut hatte den festgestampften Lehm der Gasse rot gefärbt. Schaudernd wandte ich mich ab und ritt weiter zum Campo San Luca.
Der kleine Platz war ein blühender Garten. Es duftete betörend nach Heilkräutern, die in einem Beet vor dem Haus am Ende des Campo gepflanzt waren.
Ich zügelte mein Pferd. Und nun?
Die Straße links führte zum Canalazzo, zum Ponte di Rialto und zum Rialtomarkt. Die Gasse rechts zur Piazza San Marco. Und geradeaus ging es zur Dominikanerkirche Zanipolo im Stadtteil Castello. Wohin sollte ich mich nun wenden?
Ein Mann in langer schwarzer Robe trat aus dem Haus gegenüber. Er kniete sich vor das Beet und schnitt Kräuter. Erst als er mir den Rücken zuwandte, sah ich, dass er eine Kippa trug – das Zeichen der Demut und des Respekts vor dem Allmächtigen. Er war ein Jude.
Ob er wusste, wo ich Elija finden konnte?
Ich ritt zu ihm hinüber, aber er beachtete mich nicht. Er summte ein arabisches Lied, ein sehr schönes Liebeslied, das ich aus Kairo kannte, und schnitt Heilkräuter, die er zum Trocknen gebündelt in einen Korb legte.
Noch nie war mir aufgefallen, welch ein schöner, blühender Garten vor diesem Haus lag. Er erinnerte mich ein wenig an die prächtigen Gärten im Palast des Mameluckensultans. Noch nie war ich auf meinem Weg zu Tristan hier, auf dem Campo San Luca, stehen geblieben, um mir diesen Garten anzusehen – dabei gab es doch keine hohen Mauern, die ihn vor fremden Blicken verbargen!
»Schalom«, grüßte ich den Mann.
Da sah er überrascht auf. »Schalom.«
»Ich suche Rabbi Elija ben Eliezar Ibn Daud. Könnt Ihr mir sagen, wo ich ihn finde?«
»Ja«, nickte er, doch ich wartete vergeblich auf eine genauere Auskunft. Wollte er es mir nicht sagen?
Er war sechsunddreißig oder siebenunddreißig Jahre alt, hoch gewachsen und schlank. Sein Bart war gepflegt, sein dunkles, lockiges Haar fiel in langen Kaskaden bis über die Schultern und war im Nacken mit einer silbernen Spange gebändigt.
»Und wo ist der Rabbi?«, fragte ich.
»In der Synagoge. Was wollt Ihr von ihm?«
Mit diesem temperamentvollen spanisch-arabischen Akzent hatte auch Elija Italienisch gesprochen.
»Ich will …«, begann ich, doch dann besann ich mich, um Elija nicht in Gefahr zu bringen. »Ich weiß nicht, was Euch das angeht!«
Seine braunen Augen musterten mich, nichts schien ihnen zu entgehen. Schließlich blieb sein Blick an meinem rechten Fuß hängen, der, steif und schmerzhaft angeschwollen, nicht im Steigbügel steckte.
»Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn Ihr meinen Bruder sprechen wollt«, sagte er schließlich.
»Ihr seid sein Bruder?«, fragte ich verblüfft.
»Ich bin David.«
»Ihr seid der Medicus, nicht wahr? Wie geht es Elija … bitte verzeiht, Señor Ibn Daud: Wie geht es Eurem Bruder? Er sagte, Ihr würdet seine Wunde versorgen, sobald er nach Hause käme.« Dann stellte ich mich vor: »Ich bin Celestina Tron.«
David Ibn Daud schmunzelte: »Die Königin von Saba ist gekommen, um König Salomo auf die Probe zu stellen.«
Ich lachte herzlich über seinen biblischen Vergleich: »Ich will Eurem Bruder keine Rätselfragen stellen, um seine Weisheit zu prüfen.«
»Was wollt Ihr dann von ihm?«
»Euer Bruder hat im Morgengrauen mein Haus verlassen, als ich noch schlief. Dieses Buch hat er auf meinem Schreibtisch liegen gelassen.« Ich zog Ibn Shapruts Prüfstein aus der Satteltasche. »Ich wollte es ihm bringen.«
»Ihr wusstet doch gar nicht, wo Ihr ihn finden konntet. Und trotz Eurer schmerzhaften Verletzung seid Ihr auf das Pferd gestiegen, um meinem Bruder sein Buch zu
Weitere Kostenlose Bücher