Die Evangelistin
Elohim – Gott? Und wer war Juan?
Judith strahlte mich an. »Das ist Elijas Bibel. Ich habe sie aus seinem Studierzimmer geholt, weil ich annahm, dass Ihr gern verstehen würdet, was Ihr hört und seht. Ich dachte, dass Ihr vielleicht die Texte der Psalmen in Latein mitlesen wollt. Den Kiddusch und die Gebete werde ich Euch übersetzen … ich meine: wenn mein Italienisch dafür ausreicht.«
»Danke, Judith. Das ist sehr freundlich von Euch«, sagte ich auf Italienisch, um dann auf al-Arabiyya hinzuzufügen: »Wenn es dir leichter fällt, werde ich Arabisch mit dir sprechen.«
»Ja, das wäre schön«, antwortete sie in derselben Sprache. »Elija, David und Aron sprechen Arabisch, Spanisch, Lateinisch, Französisch und Italienisch. Aber ich habe zu Hause nur Gelegenheit, Hebräisch und Arabisch zu sprechen und arabische und spanische Bücher zu lesen. Ich bin … wie soll ich sagen? … im Grunde bin ich mit allen drei Brüdern verheiratet, denn ich bin die einzige Frau in unserem Haus, abgesehen von meiner Tochter Esther.«
»Wie lange seid ihr schon in Venedig?«
»Seit fünf Jahren. Wir sind Sefardim, spanische Juden. Wir kommen aus Granada.« Dann wies sie zur Treppe. »Lass uns hinaufgehen, Celestina. Der Gottesdienst wird gleich beginnen.«
Judith führte mich auf die Galerie, und wir nahmen an der Brüstung Platz, wo ich zuvor gesessen hatte.
Ich blickte hinunter in den Gebetssaal, der sich zusehends füllte.
»Wo sind Elija und David?«, fragte ich, da ich sie zwischen den hereinströmenden Gläubigen nicht finden konnte.
»Sie suchen Aron, ihren jüngeren Bruder. Obwohl die Sonne schon untergeht und der Schabbat bald beginnt, ist er noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Sie machen sich Sorgen und wollen ihm entgegengehen.«
Ein Mann mit langem schwarzem Talar und dem Tallit über der Schulter sah zu uns herauf. Er mochte etwa siebenunddreißig Jahre alt sein. Sein dunkles Haar war schulterlang, der Bart war kurz geschnitten. Sein rechter Arm hing wie gelähmt herab.
Als er Judith erkannte, winkte er ihr zu. Dann sah er mich forschend an. Er rief etwas in Hebräisch zu uns herauf, und Judith antwortete in derselben Sprache.
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Elijas Freund, Rabbi Jakob Silberstern. Er will mit Elija sprechen. Ich habe ihm gesagt, dass David und er Aron suchen.« Judith schüttelte den Kopf. »Wie seltsam … Jakob ist ein Aschkenasi, ein deutscher Jude. Aschkenasim und Sefardim feiern den Gottesdienst nach verschiedenen Riten. Warum ist Jakob nicht in seiner Synagoge, um den Schabbat zu feiern?«
Elija kehrte zurück: Er war allein. Wo waren David und Aron? Er durchquerte den Saal, begrüßte Jakob und sprach leise ein paar Worte mit ihm. Dann verließen sie gemeinsam die Synagoge.
Mit einiger Verspätung, denn die Sonne war inzwischen untergegangen, begann der Gottesdienst – ohne Aron. Elija wirkte unruhig und besorgt, und auch David hatte offensichtlich Angst. Was war denn bloß passiert?
Während des Gottesdienstes erklärte mir Judith leise, was unten geschah.
Elija sang die Gebete und die Psalmen. Seine Stimme zog mich in ihren Bann – ich schloss die Augen und lauschte andächtig seinem Gesang.
Er litt! Und wie er litt! Er hatte in dieser Nacht getötet, doch nicht aus Notwehr! Er hätte sich aus dem Kampf heraushalten können. Er hätte still umkehren und einen anderen Weg nach Hause gehen können. Doch er hatte es nicht getan. Er hatte sein Leben riskiert, zwei Assassini getötet und mir, einer Christin, mit seinem beherzten Eingreifen das Leben gerettet.
Elija sah zu mir empor. Unsere Blicke verschmolzen miteinander. Die stille Traurigkeit in seinen Augen berührte mein Herz. Dann wandte er sich ab. Bis zum Ende des Gottesdienstes sah er nicht mehr zu mir empor.
David, der nicht weit entfernt von der Kanzel saß, hatte unseren Blickwechsel bemerkt.
Der Sabbat wurde sehr feierlich begrüßt. Die Gläubigen erhoben sich von ihren Bänken und verneigten sich zur Tür, als betrete eine Königin den Saal. Nach einem weiteren Psalm folgte das Abendgebet und dann der Kiddusch: Ein Silberbecher wurde mit Wein gefüllt und Elija gereicht, der ihn mit beiden Händen in die Höhe hob und den Segen über den Wein und den heiligen Sabbat sprach. Damit war der Gottesdienst beendet.
Judith umarmte mich herzlich. »Schabbat Schalom!«
»Das wünsche ich dir auch, Judith!«
»Es hat dir gefallen, nicht wahr?«
Sie führte mich zur Treppe und half mir, in den Gebetssaal
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