Die Evangelistin
Ibn Shapruts Buch. Über das hebräische Mattitjahu-Evangelium. Über das ›Tu es Petrus …‹ am Seitenrand und das Bet Tefilla anstelle von Ecclesia. Und über alle anderen gefährlichen Geheimnisse, die noch im Text verborgen lagen und die sie enträtseln wollte, ohne zu ahnen, was es für sie bedeuten würde.
Ich schwieg, denn ich ahnte, wie gern sie mit mir zusammengearbeitet hätte. Ich wollte … ich durfte ihr keine Hoffnung machen. Für mich war es schon lebensgefährlich – umso mehr für Celestina! Denn sie riskierte auch noch ihr Seelenheil: Nulla salus extra ecclesiam – kein Heil außerhalb der Kirche. Die Übersetzung des ›Tu es Petrus …‹ war doch nur der erste Schritt außerhalb der schützenden Mauern der Kirche. Der erste beherzte Schritt auf einem Weg ohne Wiederkehr.
War sie eine neue Prüfung für meinen Glauben … für mich ?
Adonai, wie viele noch? Ist sie das Ende aller Prüfungen, die schwierigste von allen? Ist sie mein Prüfstein, über den ich auf meinem Weg stolpern muss? Soll sie meinen Glauben versuchen, mich in die Knie zwingen und mich von meinem Vorhaben abhalten? Oder soll sie mir das Wasser reichen, das ich zum Leben brauche, um meinen Weg weitergehen und vollenden zu können? Soll sie mir helfen, meine Aufgabe zu erfüllen?
Antworte mir, Adonai!, schrie ich innerlich.
Ihr Lächeln war verweht und einer tiefen Ernsthaftigkeit gewichen. Spürte sie, was in mir vorging?
»Warum beschäftigt sich ein Rabbi mit den Evangelien?«, fragte sie. »Was findest du bei Rabbi Jeschua, Rabbi Elija?«
»Jeschua und ich haben dieselbe Vision.«
Ihre Lippen bewegten sich, aber sie schwieg. Doch ich erahnte ihre Frage: Welche Vision?
»Elija hat eine Vision vom verlorenen Paradies«, erklärte David, der mein Zögern bemerkt hatte. »Ein Paradies, in dem alle Menschen – Christen und Juden – friedlich zusammenleben. Wo kein Mensch für seinen Glauben verfolgt und hingerichtet wird, wo keine Bücher verbrannt werden. Wo Liebe, Vergebung und Respekt nicht nur Worte sind, die die Christen ans Kreuz genagelt haben, um uns Juden im Zeichen dieses Kreuzes zu hassen, zu verfolgen und zu töten. Wo Liebe, Vergebung und Schalom, der Frieden, gelebt werden, wie Jeschua es in der Bergpredigt gefordert hat.«
»Ein verlorenes Paradies? Hat dieses Paradies denn jemals existiert – jenseits von Eden?«, fragte Celestina.
Nur als Vision, dachte ich. Der Prophet Jesaja hatte in der wunderbaren Wiedererstehung Israels nach seiner Zerstörung einen Weg gesehen, die ganze Welt zum Glauben an den Allmächtigen zu bringen. Israel als Licht für die Völker. Israel als neues Paradies.
Celestinas Blick verriet ihre Bewegung. »War Granada ein solcher Garten Eden?«
Ich nickte traurig.
»Wie lange warst du nicht in Granada?«
»Heute sind es zweitausendzweihundertzweiunddreißig Tage.«
»Du zählst die Tage?«, fragte sie betroffen. Da stutzte sie und begann zu rechnen. »Dann seid ihr im Jahr …«
»Wir sind Ostern 1509 aus Granada geflohen«, half ich ihr.
Sie war verwirrt. »Aber ich dachte, dass Isabel und Fernando die Juden 1492 aus Kastilien und Aragón vertrieben haben.«
»Das stimmt«, nickte David. »Es war der neunte Tag des Monats Aw des Jahres 5252. Ein jüdischer Trauertag. Wer nach Mitternacht des 9. Aw noch im Land war, wurde hingerichtet.«
»Aber ihr seid geblieben?« Celestinas Blick huschte von David zu mir.
»Ich lasse mich nicht aus dem Paradies vertreiben«, erklärte ich.
»Was war geschehen?« Als ich nicht antwortete, wandte Celestina sich an David. »Ich würde es gern wissen.«
»Warum?« Mein Bruder lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Weil ich weiß, was es bedeutet, zu fliehen, alles, was dir jemals etwas bedeutet hat, hinter dir zurückzulassen und ins Exil zu gehen – verzweifelt und ohne Hoffnung auf eine Rückkehr. Weil ich weiß, wie weh es tut, mit den Wurzeln aus dem fruchtbaren Boden der Heimat gerissen zu werden und zu versuchen, an einem anderen Ort Halt zu finden, um zu überleben. Und weil …« Sie zögerte einen Herzschlag lang, dann sprach sie weiter und sah mir dabei in die Augen. »… weil ich euch sehr gern habe. Euer Schicksal berührt mich.«
David warf mir einen fragenden Blick zu – er mochte Celestina, das sah ich ihm an. Ich nickte ihm zu: Ich wollte es ihr selbst erzählen.
Judith legte mir ihre Hand auf den Arm – sie wusste, wie sehr ich mich quälte.
Ich schloss einen Moment die Augen, um mich zu besinnen. Wo
Weitere Kostenlose Bücher