Die Evangelistin
auslieferte.
Trotz der Macht, die er besaß, hatte unser Vater nie etwas für sich gewollt. Als ihn die jüdische Gemeinde zu ihrem Oberhaupt wählte, lehnte er ab: Er sei dieser Ehre nicht würdig. Er diene dem Staat, weil der Sultan es wünschte. Jedoch würde er niemals vergessen, dass er Jude sei.
Wenn er, Eliezar Ibn Daud, der jüdischen Gemeinde nicht zu dienen vermochte, so konnten es doch seine drei Söhne. Ich sollte ein angesehener Rabbi werden, ein Richter und Gelehrter, der in der Synagoge von Granada die Gottesdienste hielt, und so schickte er mich zum Studium bei einem bekannten Rabbi. David sollte Medizin studieren und, seinem Wunsch entsprechend, ein berühmter und erfolgreicher Arzt werden. Und Aron, sein jüngster Sohn, sollte Händler und Bankier werden, um den Reichtum der Familie Ibn Daud zu mehren. Unser Vater hatte eine Schatztruhe voller Träume!
Wie die großen jüdischen Gelehrten Jehuda Halevi, Samuel Ibn Nagrela und Chasdai Ibn Shaprut träumte er von einem unabhängigen jüdischen Staat auf jüdischem Boden: die großartige Vision von der Wiedererstehung Israels. Trotzdem diente er dem Sultan, der ihm eine verantwortungsvolle Aufgabe übertragen hatte: Es ging um das Überleben von Granada als unabhängiger Staat. Die Bewahrung des Paradieses.
Tragisch war, dass unser Vater das Scheitern seiner Hoffnungen, die Vernichtung dieser wundervollen Vision eines neuen Staates Israel und die Zerstörung des Reiches von Granada, dessen Erhaltung er sein ganzes Leben gewidmet hatte, vor seinem Tod noch miterleben musste.«
Die Erinnerungen an Granada stimmten mich traurig.
»Vor der Eroberung Granadas durch die Spanier besaßen wir einen großen Palacio unterhalb der Alhambra, der Residenz der Könige von Granada. Wie viele andere angesehene jüdische Familien wohnten wir nicht in der Judería. Niemand verschloss damals seine Tür. Unsere Haustür stand den ganzen Tag offen, und jeder, der uns besuchen wollte, konnte hereinkommen. Selbst nachts war sie nur angelehnt. Ein Schloss haben wir erst später einbauen lassen.
Ein Juwel von Eleganz und Anmut, so nannte der Sultan Az-Zaghal unser Haus wegen des blütengeschmückten Patios mit dem maurischen Balkon und den duftenden Orangen- und Zitronenbäumen, den schönen Arabesken in den Räumen und all den anderen Annehmlichkeiten wie fließendem Wasser im Bad. Zugegeben, unser Patio war nicht so beeindruckend wie der Löwenhof im Harem der Alhambra, aber unser Haus war nicht weniger prächtig eingerichtet als der Königspalast. Er war, wie die Alhambra, nicht in einem Atemzug erbaut worden, sondern das Werk mehrerer Generationen angesehener, wohlhabender und sehr einflussreicher Ibn Dauds.
Von der Dachterrasse hatte man einen schönen Blick auf die Vega, das Fruchtland rund um Granada, auf die weißen Häuser auf dem Albaicín-Hügel, auf das Minarett und die Kuppel der großen Moschee und auf die Koranschule. Auf der anderen Seite sah man die hoch aufragenden Türme der Alhambra. Und dahinter ragten die schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada in den Himmel.
Als wir Kinder waren, haben David und ich unseren Vater oft in den Königspalast begleitet. Aron war damals noch zu klein. Die Sorgen, die unseren Vater damals quälten, die Reconquista der Reyes Católicos und der drohende Untergang des Paradieses, waren für uns Kinder düstere Gewitterwolken am Horizont – zu fern, um den Sturm und das Donnergrollen zu fürchten.«
Lächelnd versank ich einen Augenblick in den Erinnerungen an eine andere, bessere Zeit. Dann fuhr ich fort:
»Neben dem großen Haus in Granada hatten wir noch einen Landsitz westlich der Stadt. Bevor Az-Zaghal König wurde, war er dort einige Male zu Gast, wenn er von der Alhambra in seine Residenz in Málaga zurückkehrte. Im Jahr 1476 bin ich dort geboren worden – David folgte zwei Jahre später. Unser Bruder Aron …« Ich wies auf den leeren Stuhl neben mir. »… kam in unserem Haus in Granada auf die Welt – das war 1481. Er ist vierunddreißig …«
… und damit alt genug, um zu wissen, wann der Gottesdienst am Freitagabend begann und dass der heilige Schabbat mit dem Abendessen im Kreis der Familie gefeiert wurde! Warum war Aron nicht nach Hause gekommen? Wo steckte er bloß?
»In unseren Gärten wuchsen Granatäpfel, Orangen und Zitronen, Aprikosen und Pfirsiche, Birnen und Mandeln. Wir hatten auch einen Weingarten. Wenn wir auf dem Land waren, ritten wir oft nach Alhama de Granada, das nicht weit entfernt
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