Die Evangelistin
sollte ich beginnen? Bei der Eroberung Spaniens durch die Araber im Jahr 711? Bei der Reconquista der Spanier, die jahrhundertelang versucht hatten, die ›Ungläubigen‹ bis über das Meer zurückzudrängen, und erst 1492 durch den Verrat des letzten Sultans von Granada dazu in der Lage waren? Was musste sie wissen, um verstehen zu können?
»Meine Familie, die Ibn Dauds, lebte bereits in Spanien, bevor die Araber unter Tarik Ibn Zayed im Jahr 711 das Land eroberten. Wir waren schon dort, als Rom noch die Welt beherrschte.«
»Woher stammt der Name Ibn Daud?«
»Was glaubst du?«, fragte ich zurück.
»Ibn Daud heißt auf Hebräisch Ben David: Sohn Davids.«
»Das stimmt«, nickte ich.
»Und wer war jener David, von dem eure Familie abstammt?«
Als ich nicht antwortete, sah sie mich fast erschrocken an. »Doch nicht …«
»David ben Jischai aus Betlehem. Der Schafhirte, der vom Propheten Samuel zum König gesalbt wurde. Der Dichter der Psalmen. Der Herrscher, der die Bundeslade in die neue Hauptstadt Jeruschalajim holte und seinem Sohn Salomo nach dessen Salbung zum König den Befehl gab, Gott einen prächtigen Palast zu bauen: den Tempel von Jeruschalajim.«
»Ihr seid Nachkommen von König David?«, fragte sie gebannt.
»Das hat uns unser Vater Eliezar erzählt«, erklärte ihr David. »Und unserem Vater hat es sein Vater Jehoschua erzählt. Und ihm wiederum der seine, Jischai ben Aron. Und dem Aron hat es sein Vater erzählt, Samuel. Und so geht es immer weiter, bis in die Zeit des Jüdischen Krieges und der Zerstörung des Tempels, als unsere Familie aus Jeruschalajim geflohen ist. Ob es aber wahr ist, weiß niemand.« Er lachte übermütig. »Wir haben jedenfalls nicht vor, Ansprüche auf den Thron zu erheben und nach zweitausend Jahren eine neue Dynastie der Ben Davids in Israel zu gründen.«
»Jesus war auch ein Sohn Davids.« Sie zögerte, die Frage zu stellen. »Seid ihr verwandt mit Rabbi Jeschua?«
»Wie sollte ich mit ihm verwandt sein, da er doch Gottes Sohn war?«, fragte ich sie. »Joseph war ein Nachkomme Davids, nach christlichem Glauben jedoch nicht sein Vater. Nachzulesen im Evangelium des Mattitjahu.«
Celestina starrte mich fassungslos an.
Weil ich ein Sohn König Davids war. Weil ich Jeschua als meinen Verwandten bezeichnete. Und weil ich das Evangelium des Mattitjahu erwähnte, das sie in Ibn Shapruts Buch gefunden hatte, ›das Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams‹, wie es in Mattitjahus Stammbaum hieß – der damit endete, dass Joseph ben Jakob stillschweigend doch als Jeschuas Vater bezeichnet wurde.
David schenkte ihr Wein nach, und sie trank, ohne den Blick von mir zu wenden. Sie war zutiefst erschüttert, das sah ich ihr an. Doch sie glaubte mir. Ihr Blick huschte zu Ibn Shapruts Buch hinüber, das neben meinem Tallit lag. Mehr denn je wünschte sie den Prüfstein zu lesen.
Celestina, tu es nicht!, dachte ich. Du ahnst nicht, was du finden wirst. Dass Joseph ben Jakob Jeschuas Vater war, dass Jeschua wirklich ein Sohn Davids war und dass Gott sein Vater war, wie Er auch der meine ist – das ist doch nur der Anfang des Evangeliums, das die Welt verändern wird! Des Evangeliums, das ich schreiben will: Das verlorene Paradies.
Den Braten auf ihrem Teller hatte sie noch nicht angerührt. Er war schon kalt geworden. Ich zog die Silberplatte mit dem warmen Braten zu mir heran und legte ihr ein neues Stück Lamm auf den Teller. »Judith hat das Mahl nach einem alten Rezept ihrer Familie aus Granada zubereitet.«
Celestina beeilte sich, einen Bissen zu kosten. »Es ist wirklich sehr gut!«, sagte sie zu Judith, die zufrieden lächelte.
Ich füllte mein Weinglas und trank einen Schluck, bevor ich mit meiner Erzählung fortfuhr.
»Die Familie Ibn Daud war also schon seit sehr langer Zeit in Spanien. Zuerst in Toledo, einer alten jüdischen Stadt, dann, nach der Eroberung Spaniens durch die Araber, in Córdoba am Hof des Kalifen Abd ar-Rahman und seiner Nachfolger. Auf der Flucht vor der Reconquista gingen wir nach Sevilla und lebten schließlich in Granada am Hof der Nasriden, der letzten muslimischen Könige auf spanischem Boden.
Unser Vater Eliezar Ibn Daud war einer der einflussreichsten Berater der letzten drei Sultane. Er diente nacheinander Abu al-Hassan, nach dessen Tod seinem Bruder Az-Zaghal und dann dessen Neffen Abu Abdallah, den die Spanier Boabdil nennen – dem Verräter, der Granada den Reyes Católicos
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