Die Evangelistin
war. Aber einmal, ohne Wissen unseres Vaters, auch bis Vélez Málaga nahe dem Meer. Ich war damals elf, David neun.«
Wie gut ich mich noch an das zornige Gesicht unseres Vaters erinnern konnte, als David und ich erst lange nach Mitternacht heimgekehrt waren – wir hatten uns im Mondlicht verirrt! Es war das einzige Mal gewesen, dass mein Vater mich geschlagen hatte, weil ich als älterer Bruder David überredet hatte, mich zu begleiten. Mein Vater hatte sich furchtbare Sorgen um uns gemacht. Die Spanier waren nur ein paar Meilen entfernt in der Festung von Alhama de Granada. Und wenige Tage nach unserem Ausritt wurde Vélez Málaga erobert.
Celestina hing an meinen Lippen. »So wie du von Granada erzählst, klingt es wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.«
»Das war es. Ein schönes Märchen, das tragisch endete. Mit einem Verrat.«
»Was war geschehen?«, fragte sie gespannt.
»Abu Abdallah, von Fernandos und Isabels Gnaden der letzte Sultan von Granada, hat die Stadt den Reyes Católicos ausgeliefert. Das Reich bestand am Ende nur noch aus der belagerten und seit April 1491 von der Welt abgeschnittenen Stadt Granada.
Im November begannen die Verhandlungen, und der Sultan stellte seine Forderungen: Gewährleistung der Sicherheit für die Einwohner und ihren Besitz, freie Religionsausübung in Moscheen und Synagogen, keine Diskriminierung von Nichtchristen und die Möglichkeit, in den Maghreb auszuwandern. Den Juden wurden im Kapitulationsvertrag dieselben Rechte zugestanden wie den Mauren. Isabel und Fernando stimmten zu – der Kampf um Granada hatte schon zu lange gedauert und zu viele Opfer gefordert.
Im Übrigen hatten die katholischen Könige nie beabsichtigt, auch nur eine dieser Zusagen einzuhalten, widersprachen sie doch ihrem Ziel, die Ungläubigen aus Spanien zu vertreiben. Alle Ungläubigen: Muslime und Juden! Die Kapitulationsurkunde von Granada war das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben war.«
Mit einem Schluck Wein versuchte ich meine Bitterkeit hinunterzuspülen. Dann fuhr ich fort:
»Im Morgengrauen des 2. Januar 1492 verkündeten drei Kanonenschüsse von den Mauern der Alhambra die Kapitulation. Am selben Nachmittag zogen Isabel und Fernando von ihrem Feldlager in Santa Fé in die Stadt ein. Als Berater des Sultans und Vertreter der jüdischen Gemeinde war unser Vater bei der Übergabe der Schlüssel der Stadt sowie des Goldringes des Sultans anwesend. Am Abend wurde das Banner des Islam über der Alhambra eingeholt und durch ein christliches Kreuz ersetzt. Das war der Anfang vom Ende.«
Meine Hand verkrampfte sich um den Dolch in meiner Hand.
»Drei Monate später, Ende März 1492, brachen Isabel und Fernando die Kapitulationsvereinbarung durch das Edikt der Ausweisung der Juden bis zum 9. Aw 5252 – Anfang August 1492. Aller Juden aus ganz Spanien, nicht nur aus Al-Andalus.« Ich atmete tief durch und wich Davids besorgtem Blick aus.
»Und dann, still und heimlich, und selbstverständlich inoffiziell, kam, entgegen allen gegebenen Versprechen, die spanische Inquisición nach Granada. Damit war der Untergang des Paradieses besiegelt. Unsere Träume von Frieden und Freiheit und von der freien Ausübung unseres Glaubens verbrannten auf den Scheiterhaufen der Inquisición.«
Ich fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht, um die Gedanken zu verscheuchen, die grausamen Erinnerungen an bei lebendigem Leib brennende Menschen. Ihre Schreie – vor Zorn, vor Schmerz und vor Verzweiflung, von Gott verlassen zu sein!
Und dann: Sarahs letzter Blick, bevor die Flammen an ihr hochloderten: ›Stirb mir nicht nach, Elija!‹
Judith kam zu mir herüber, um mich zu trösten. Leicht wie ein Lufthauch küsste sie mich auf die Lippen, wie Sarah es immer getan hatte, flüsterte auf Hebräisch liebevolle Worte, wie Sarah sie gesagt hatte, und strich mir sanft über das Haar.
Seit Sarahs Tod war unsere Beziehung sehr innig. Judith bemühte sich, mir Sarah zu ersetzen, mir die Liebe zu schenken, nach der ich mich sehnte, mir den Halt zu geben, den ich brauchte. Sie versuchte für mich da zu sein.
»Ist schon gut«, sagte ich auf Hebräisch.
Sie lächelte mitfühlend und kehrte an ihren Platz zurück. David ergriff ihre Hand und drückte sie.
Celestina war berührt von Judiths inniger Liebe, die weit mehr war als die herzliche Beziehung zwischen mir und der Gemahlin meines jüngeren Bruders. Und sie war betroffen über den Kuss. Wie konnte sie auch wissen, was Judith und mich
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