Die Evangelistin
sehr leidenschaftlich auf die Lippen.
»Hattest du einen schönen Traum?«, hauchte er und strich mir über das zerwühlte Haar.
»O ja!«, nickte ich. »Einen ganz wundervollen Traum!«
Er ließ sich neben mich in die Kissen sinken und umarmte mich. »Erzähl ihn mir! Wir haben noch ein wenig Zeit.«
»Ich verstehe nicht«, murmelte ich und legte den Kopf an seine Schulter.
Tristan trug enge Hosen, die seine schlanken Beine sehr schön zur Geltung brachten. Die schwarze Jacke mit dem Hermelinkragen hatte er offen gelassen, sodass das weiße Seidenhemd zu sehen war.
Ich zog das Hemd aus seiner Hose, schob meine Hand darunter, und streichelte seinen flachen Bauch und seine Brust.
»Ich bin gekommen, um dich zur Messe in San Marco abzuholen«, flüsterte er und küsste mich. »Es ist Sonntagmorgen – falls dir das vor lauter Arbeit entfallen sein sollte. Leonardo hat uns nach dem Gottesdienst zum Essen in den Dogenpalast eingeladen.«
»Ich erinnere mich …«
»Mein Schatz, du arbeitest zu viel. Menandros hat mir vorhin erzählt, dass du erst heute Morgen ins Bett gegangen bist.«
»Ich war nicht müde …«
… nein: Ich wollte nicht müde sein! Ich hatte nicht in meinem Bett liegen und an Elija denken wollen, der nach dem Griechisch-Unterricht zum Sonnenuntergang in die Synagoge zurückgekehrt war, um den Sabbat zu verabschieden. Und an Tristan, den ich mit meinem Kuss verraten hatte.
O Gott, was hatte ich getan!
Tristan nahm mich zärtlich in die Arme. »Wie wäre es, wenn wir ein paar Tage aus Venedig verschwinden? Nur wir zwei, wie vor ein paar Wochen, als du Giovanni Montefiore in Florenz besucht hattest! Wir könnten nach Rom reisen.«
»Nach Rom?«, fragte ich erstaunt.
»Du wolltest doch in den Vatikan! Ich begleite dich. Was hältst du davon? Wir machen uns ein paar schöne Tage in Rom. Du verdrehst ein paar Kardinälen den Kopf, und ich besuche die berühmtesten Kurtisanen. Vielleicht kann ich bei ihnen ein paar Dinge lernen, die uns beiden Vergnügen bereiten würden …«
»Nein!«
»Aber du scheinst dich in letzter Zeit mit mir gelangweilt zu ha…«
»Das ist nicht wahr!« Ich küsste ihn. »Du begehst jede Todsünde, außer der der Langeweile.«
»Also gut, keine Kurtisanen und Kardinäle! Nur wir beide, du und ich«, flüsterte er. »Wir könnten deinen Freund Raffaello auf der Baustelle von San Pietro besuchen oder Michelangelos Fresken in der Sixtina besichtigen oder mit dem Papst zu Abend essen … ich meine: wenn wir es schaffen, aus dem Bett zu kommen …«
Sein Kuss war atemberaubend.
Warum will Tristan nach Rom?, fragte ich mich. Vor vier Tagen ist er zum Vorsitzenden des Consiglio dei Dieci gewählt worden. Warum will er ausgerechnet jetzt, da er den Zenit seiner Macht erreicht hat, Venedig verlassen und nach Rom reisen?
Wenn ich näher darüber nachdachte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass die Reise nach Rom eine Flucht war.
War Tristan um meine Sicherheit besorgt? Hatten die Untersuchungen zu dem Attentat vor drei Tagen beunruhigende Neuigkeiten zutage gefördert, sodass Tristan mich aus Venedig fortbringen musste, weil er mein Leben hier nicht schützen konnte? Weil er nichts gegen den Florentiner Humanisten Giovanni Montefiore unternehmen konnte, ohne einen Konflikt zwischen Florenz und Venedig heraufzubeschwören, der bei der verstreuten Nation der Humanisten in ganz Europa Wellen geschlagen hätte?
Und das Geld, das Tristan sich bei Aron geliehen hatte? Hatte Tristan Schulden, hatte er zu viele Zecchini für seine glänzende Karriere als künftiger Doge ausgegeben – wurde er deshalb erpresst? Doch dann dachte ich an den anonymen Brief in der Bocca di Leone und Leonardos Warnungen: Wer wusste von meinen verbotenen Büchern und unserer Liebe, die das Ende seiner und meiner Karriere bedeuten konnte? Wollte Tristan mit mir aus Venedig fliehen, um uns beide dieser Bedrohung zu entziehen?
Wer drohte Tristan? Derselbe, der den Anschlag auf mich befohlen hatte? Giovanni Montefiore!
Ich setzte mich im Bett auf und betrachtete meinen Geliebten, der neben mir in den Kissen lag.
In Rom würde Tristan auf eine Antwort auf die Frage hoffen, die ich nicht beantworten konnte, weil ich ihm nicht wehtun wollte. Ein Heiratsantrag in der Sixtinischen Kapelle und eine Trauung durch den Papst – das wäre nach seinem Geschmack gewesen!
Ich beugte mich über ihn, um ihn zu küssen. »Tristan, mein Liebster …«
»Mhm?« Er räkelte sich wohlig in die Kissen.
»Ich will
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