Die Evangelistin
aufsah, stand er vor mir. Menandros hatte ihn die Treppen hinaufgeführt, weil er annahm, Elija und ich wären für die nächste Griechisch-Stunde verabredet.
»Wenn ich ungelegen komme, werde ich wieder gehen«, sagte er und wandte sich zur Tür. Unter dem Arm trug er Ibn Shapruts Prüfstein.
Ich sprang auf. »Bitte warte, Elija! Geh nicht!«
Als er in der Tür stehen blieb und sich wieder umdrehte, eilte ich zu ihm. »Es tut mir Leid, ich wollte dich nicht verletzen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du heute Abend kommst. Du wolltest doch Jakobs Sohn Yehiel auf seine Bar-Mizwa-Feier vorbereiten.«
»Yehiel ist vor einer halben Stunde nach Hause gegangen. Da dachte ich, wir könnten noch ein wenig im Evangelium lesen. Ich nahm an, es hätte dir gestern Spaß gemacht, mich Griechisch zu lehren und mit mir zu diskutieren. Ich dachte, unser Kuss … Bitte entschuldige, ich habe mich geirrt.«
Er war so traurig, so verzweifelt – wie ich selbst! Ich konnte ihn nicht gehen lassen. Das würde ich mir niemals verzeihen. Und doch musste ich es tun. Ich durfte ihn nicht aufhalten, ich hatte nicht das Recht, sein Leben in Gefahr zu bringen.
Wie lange wir so standen, ohne ein Wort zu sagen, ohne uns zu berühren, wie lange wir uns nur ansahen, im Blick des anderen nach etwas suchten, nach einem Funkeln, nach einem Gefühl, an dem wir uns festhalten konnten, um einen Grund zu haben, uns nicht voneinander loszureißen und voreinander zu fliehen, nicht an diesem und an keinem anderen Tag – ich weiß es nicht mehr.
Geh, Elija, geh und komm nie wieder!, flehte ich im Stillen. Flieh aus meinem Leben, bevor wir beide nicht mehr zurückkönnen!
In diesem Moment muss ich ebenso hoffnungslos ausgesehen haben wie er selbst: Er ging nicht. Er floh nicht, nicht vor mir, nicht vor seinen eigenen Gefühlen, als er an Sarah dachte.
Seine Lippen streiften die meinen zart wie ein Lufthauch.
»Du hast das Buch mitgebracht.« Ich wies auf Ibn Shapruts Prüfstein , den er noch immer unter dem Arm trug.
»Ich hatte es dir versprochen.«
»Weißt du, dass du mir, indem du mir dieses Buch gibst, dein Leben anvertraust?«
»Weißt du, dass du, als du es mir vor zwei Tagen brachtest, mir dein Leben anvertraut hast?«, fragte er zurück.
Ich nickte.
»Du weißt, was ich vorhabe: Ich will das hebräische Matthäus-Evangelium im zwölften Kapitel des Prüfsteins mit dem griechischen Text vergleichen. Der Griechisch-Unterricht gestern, diese wundervollen Stunden, die wir miteinander verbrachten, haben mir die Augen geöffnet. Das Griechische werde ich niemals so beherrschen wie du. Ich werde niemals Griechisch denken, so wie du niemals Hebräisch denken wirst. Du weißt wie ich, dass ich Matthäus nicht ohne dich lesen kann, und du Mattitjahu niemals ohne mich.«
Wieder nickte ich nur.
»Wir sollten also keine Zeit verschwenden und mit dem beginnen, was wir doch im Grunde unseres Herzens tun wollen: gemeinsam arbeiten. Und während wir uns tief in die alten Texte hineinwühlen, lehrst du mich Griechisch und ich dich Hebräisch.«
Ich zog Elija zum Schreibtisch, drückte ihn mit einem »Setz dich!« auf den Stuhl und fegte mein Manuskript zur Seite. Dann nahm ich ihm das Buch aus der Hand und legte es auf den Tisch.
»So, und nun lehre mich, Rabbi!«
Er lachte. »Du verschwendest keine Zeit.«
»Der Weg durch die Wüste ist weit und schwierig. Also lass uns aufbrechen. Jetzt gleich!«
»Du sprichst wie Mosche, der seinem Volk sagte: Wir verlassen heute noch Ägypten.«
»Es ist ein Exodus, Elija. Für dich und für mich. Nichts wird sein, wie es vorher war. Wir riskieren beide die Exkommunikation, du die jüdische, ich die christliche, und wir setzen beide unser Leben aufs Spiel.«
»Du bist wirklich bereit, diesen Weg mit mir zu gehen?«
»Du sprichst wie Jesus: Wenn du nicht bereit bist, den Tod am Kreuz zu riskieren, dann folge mir nicht nach. Elija, ich kenne die Folgen meines Handelns sehr genau.«
Er wies auf den Prüfstein . »Was weißt du über dieses Buch?«
»Nicht viel«, gab ich zu. »Der Autor heißt Rabbi Shemtov ben Isaak Ibn Shaprut. Er hat das Werk 1380 in Aragón geschrieben. Nach einer Disputation mit Kardinal Pedro de Luna, dem späteren Gegenpapst Benedikt XIII .
Der Titel stammt aus dem Prophetenbuch Jesaja: ›Darum spricht Gott, der Herr: Seht her, ich lege in Zion einen Grundstein, einen Prüfstein, felsenfest gegründet. Wer glaubt, braucht nicht ängstlich zu fliehen.‹
Ibn Shaprut hat meines
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