Die Evangelistin
nicht nach Rom.«
Tristan war enttäuscht, das sah ich ihm an.
Er hatte wirklich gehofft, dass wir uns in Rom amüsieren könnten, ohne Zeremoniell, ohne Versteckspiel. Und dass wir nach drei oder vier ausgelassenen Wochen nicht nur verliebt, sondern verheiratet nach Venedig zurückkehren würden. Aber da war noch etwas, das in seinen Augen schimmerte: War es Angst? Warum vertraute er mir seine Sorgen nicht an?
Während der Messe in San Marco stand Tristan so dicht neben mir, dass er verstohlen meine Hand halten konnte. Er spielte mit dem Topasring an meinem Finger.
Gedankenverloren betrachtete ich das Bild Jesu Christi als Weltenherrscher in der goldschimmernden Apsis oberhalb des Altars. Im Licht der in den dichten Weihrauchschwaden flackernden Altarkerzen funkelte das Mosaik wie der Sternenhimmel, wenn der Wind vom Meer den Dunst über der Lagune verwehte.
Ich dachte an Elijas Unterstreichung der Worte ›er wird sein Volk erretten‹. Und ich erinnerte mich an das ›Tu es Petrus …‹ und den hebräischen Text, der besagte, dass Jesus keine Kirche gegründet hatte, sondern eine Synagoge bauen wollte.
Die ganze funkelnde Pracht der Basilica di San Marco mit ihren wunderschönen Mosaiken, den kostbaren Malereien, dem Marmor, dem goldenen Altar, den Reliquien des Evangelisten Markus, dem Weihrauchduft und den prächtigen Gewändern der Kirchendiener und des Patriarchen – das alles war … ich wagte kaum, daran zu denken! … das alles war ungewollt … das alles war sinnlos?
Wenige Schritte von mir entfernt lagen in einer Wandnische die sterblichen Überreste von San Marco … des Evangelisten Markus … eines Menschen, der Jesus nahe gewesen war und der als Jünger von Petrus ein Evangelium geschrieben hatte – ein griechisches, kein hebräisches!
Und wieder dachte ich an Rabbi Shemtov Ibn Shapruts geheimnisvolles Buch mit dem hebräischen Evangelium des Mattitjahu.
»Celestina?« Tristan drückte meine Hand. »Was ist mit dir? Du bist so blass.«
»Es geht mir gut«, versicherte ich ihm.
»Dann lass uns zur Feier der Eucharistie nach vorne gehen.« Er zog mich durch die Reihen der Gläubigen zur Treppe der byzantinischen Ikonostasis, die das Hauptschiff der Basilica di San Marco vom Altarraum trennte.
Dort kniete er nieder, um aus der Hand des Patriarchen den Leib Christi zu empfangen.
Wie sehr ich dich um deinen Glauben und deinen Seelenfrieden beneide!, dachte ich, als ich beobachtete, wie er sich von Antonio Contarini segnen ließ.
Als mein Geliebter sich erhoben hatte, sah mich der Patriarch erwartungsvoll an, hielt mir die Hostie entgegen.
Ich war wie gelähmt: Vor zwei Tagen hatte ich Brot, Wein und Salz des Alten Bundes genossen … und nun sollte ich …
Ich schloss die Augen und musste mich an Tristan festhalten: Nein, das konnte ich nicht tun!
Mein inneres Ringen verstand er falsch. »Celestina, was ist denn mit dir? Du wärst beinahe gestürzt«, flüsterte er fürsorglich und stützte mich. »Bist du schwanger?«
Tristan half mir beim Niederknien. Mein verletztes Bein schmerzte immer noch. Dann reichte mir der Patriarch den Leib Christi.
Elija, hilf mir, schrie ich in meinem Geist. Hilf mir, die Wahrheit zu suchen! Hilf mir, den Zweifel zu besiegen und meinen Glauben wiederzufinden!
Elija, rette mich!
Den ganzen Sonntagnachmittag saß ich in meiner Bibliothek, vergrub mich in einem Berg von Folianten und schrieb an meinem Manuskript, um nicht mehr nachdenken zu müssen.
Nach der Messe und dem Mahl bei Leonardo Loredan hatte Tristan mich nach Hause gebracht. Er war sehr besorgt um mich, hatte mich vom Pferd gehoben und die Treppen zu meinem Schlafzimmer hinaufgetragen. Und er hatte darauf bestanden, dass ich ein paar Stunden schlief.
Während des Essens hatte der Doge mich nicht nach meiner Entscheidung zu einer Heirat mit Tristan gefragt. Allein die Tatsache, dass wir am Sonntag in aller Öffentlichkeit gemeinsam zur Messe in San Marco erschienen waren, dass wir gemeinsam den Leib Christi und den Segen des Patriarchen empfangen hatten, dass wir Arm in Arm zum Mittagessen in die Dogenwohnung gekommen waren, dass ich offensichtlich schwanger war und Tristan sich so rührend um mich kümmerte, hatte ihn diese Frage gar nicht erst stellen lassen.
Zufrieden lächelnd war Leonardo davon ausgegangen, dass Tristan und ich uns nach dem Mordanschlag auf mich ausgesprochen hatten, und er schien erleichtert darüber, dass ich Tristan kein entschiedenes »Nein!« entgegengeschleudert
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