Die Evangelistin
Platz nahm, holte ich die griechische Grammatik und die Evangelien aus dem Regal.
Als ich die schweren Bücher auf den Tisch legte, deutete er auf die letzte Manuskriptseite, die vor ihm lag. »Du hast weitergeschrieben. Darf ich es lesen?«
Als ich nickte, nahm er das letzte Blatt:
»›Der furchtbarste Augenblick im Leben des Menschen ist nicht der, in dem er erkennt, dass, obwohl er sein Leben lang mit aller Kraft gekämpft hat, seine Hoffnungen sich nicht erfüllen werden, sondern der, in dem er sich bewusst wird, dass er keine Hoffnungen mehr hat, keine Wünsche, keine Träume, keine Visionen … nichts, wofür es sich zu leben lohnt‹«, las er vor. Dann sah er mich an. »Selbst deine Feder hat geweint, als sie diese traurigen Worte niederschreiben musste.« Er deutete auf die Tintentropfen auf dem Papier.
Ich rang meine Gefühle nieder.
Dann wies ich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs, wo Menandros saß, wenn wir gemeinsam arbeiteten: »Ist es dir recht, wenn ich während des Unterrichts neben dir sitze, wir gemeinsam die griechischen Texte lesen und ich sehe, wie du schreibst? Wenn es dir unangenehm ist, dann kann ich mich dir gegenüber setzen.«
»Bitte setz dich neben mich.«
Also schob ich den anderen Stuhl um den Tisch herum und ließ mich an seiner Seite nieder.
»In welcher Sprache soll ich dich Griechisch lehren, Elija? In Italienisch, Lateinisch oder Arabisch?«
»In Arabisch. Ich will auf das Du nicht mehr verzichten«, sagte er, und es klang beinah wie: Ich will auf dich nicht mehr verzichten.
Ich wich seinem sehnsüchtigen Blick aus und schlug umständlich die Evangelien auf.
Er war mir so nah, so beunruhigend nah! Und er roch verführerisch nach Moschus und einem schweren arabischen Duft. Ich konnte ihn berühren, wenn ich meine Hand nach ihm ausstreckte, sie ihm auf den Arm oder auf das Knie legte. Ich konnte seinen Atem hören, und wenn ich noch ein wenig näher rückte, auch seinen Herzschlag – er war ebenso erregt wie ich!
Ohne ihn anzusehen, blätterte ich zur ersten Seite des Evangeliums des Matthäus, legte meine Hand auf den ersten Absatz mit dem Stammbaum Jesu. Dann las ich den ersten Satz auf Griechisch vor und übersetzte ihn:
»Buch des Ursprungs Iesou Christou, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.«
Elija ahnte, was in mir vorging. Er legte seine Hand auf die meine. »Ich weiß, wie gern du das Buch von Ibn Shaprut lesen würdest. Du bist enttäuscht, weil ich es nicht mitgebracht habe. Aber ich darf es nicht. Es ist mir nicht erlaubt, am Schabbat ein Buch von meinem Haus zu deinem Haus zu tragen, denn an dem Tag, an dem Gott ruhte, darf ich nicht in die von Ihm vollendete Weltordnung eingreifen. Und Ibn Shapruts Buch wird die Welt verändern.«
»So wie dieses Evangelium?« Ich zog meine Hand nicht unter der seinen hervor, sondern bewegte nur meine Finger. Es war eine sehr intime Berührung.
»So wie dieses Evangelium«, nickte er. »Aber es ist ein anderes Evangelium, Celestina, nicht das Evangelium Jesu Christi, sondern das von Rabbi Jeschua. Es ist viel schöner, viel hoffnungsvoller, viel weiser. Es ist viel wahrer .«
»Wirst du es eines Tages mit mir lesen?«
Er zögerte, dann nahm er seine Hand weg, als fürchte er, mir mit seiner zarten Berührung wehzutun. Er schien ernsthaft darüber nachzudenken, und schließlich nickte er:
»Ja, wir werden das Evangelium gemeinsam lesen.«
Zwei Stunden lang lehrte ich ihn Griechisch aus dem ersten Kapitel des Matthäus, übersetzte und erklärte, dann ließ ich ihn die für ihn fremden Buchstaben und Worte lesen. Elija machte sich sehr viele Notizen in arabischer Schrift. Die meisten bezogen sich allerdings nicht auf die griechische Grammatik, die er sehr schnell begriff – Elija beherrschte sechs Sprachen! –, sondern auf Marias Jungfräulichkeit und ihre Schwangerschaft durch den Heiligen Geist, die Verkündigung der Geburt des Kindes durch den Engel Gottes an Joseph: ›Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst ihn Jesus nennen, denn er wird sein Volk erretten von seinen Sünden‹.
Die Worte ›sein Volk‹ hatte Elija unterstrichen, und ich fragte mich, ob sich die Unterstreichung auf ›sein‹ bezog, also auf Jesus als Sohn Gottes und Erlöser, oder auf ›Volk‹, also auf das Volk Israel, dem Jesus über seine jüdische Mutter angehörte. Oder meinte Elija sogar das Verb ›erretten‹, ohne es unterstrichen zu haben? Ich wusste, dass er als Jude nicht an Jesus als Messias
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