Die Evangelistin
Venezianerinnen – das war schon immer so, das muss so bleiben! Eine Contarini, eine Morosini, eine Venier: Ja! Aber doch keine Griechin florentinischer Herkunft, die weder Italienisch noch Lateinisch sprach und, als sei das noch nicht genug, dem griechisch-orthodoxen Glauben anhing! Wie konnte Giacomo Tron so etwas tun!
Gegen den Widerstand der Familie nahm mein Vater meine Mutter mit nach Venedig. Ich wurde 1490 in der Ca’ Tron geboren, dem Haus meines Vaters, wo ich eine glückliche Kindheit verbrachte.
Mein Vater war eng mit Marco Venier befreundet. Dessen Sohn Tristan, der zwei Jahre älter ist als ich, war mein bester Freund.«
»Tristan Venier, der Consigliere dei Dieci?«, fragte Elija überrascht.
»Mein Tristan«, nickte ich. »Unsere innige Freundschaft begann damit, dass ich ihn im Garten seines Vaters in die Rosen geschubst habe.«
» Was hast du getan?«, lachte Elija.
»Mit typisch männlicher Überheblichkeit hatte Tristan behauptet, ich sei als Mädchen nicht so stark wie er«, verteidigte ich meine Tat. »Da habe ich ihm bewiesen, dass er Unrecht hat, und warf ihn in die Rosen. Damals war ich sechs und er acht. Die Narben von den Dornen hat er heute noch. Nach unserem ›Rosenkrieg‹ haben wir dann Frieden geschlossen, der nun schon seit neunzehn Jahren alle Stürme überstanden hat.
Tristan ist immer noch mein bester Freund. Uns verbindet nicht nur eine innige Freundschaft, sondern auch dasselbe Schicksal: Sein Vater Marco Venier starb wie meiner in der Schlacht von Agnadello gegen den Papst und den König von Frankreich. Tristan war so allein wie ich. Nach dem Tod meiner Eltern war er der Einzige, der zu mir gehalten hat. In jener furchtbaren Nacht, als ich aus Venedig fliehen musste, hat er mir geholfen.«
Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen, um die Erinnerungen zu verscheuchen. Die Demütigung. Die Scham. Den Hass. Antonios grausames Lächeln, als er mich mit Gewalt auf den Tisch drückte. Der Schmerz, als er brutal in mich eindrang. Sein heiseres Stöhnen. Empfand er dabei wirklich Lust, oder war es nur die tiefe Befriedigung, mir seinen Willen aufzuzwingen?
Ich holte tief Luft.
»Was ist mit dir? Wenn du nicht weitererzählen willst …«
»Elija, ich will, dass du weißt, was geschehen ist. Ich will, dass du verstehst, warum ich bin, wie ich bin, und warum ich tue, was ich tue. Ich will, dass du weißt, wen du liebst.«
»Glaubst du, ich würde dich nicht mehr lieben, wenn ich alles über dich wüsste?«, fragte er sehr ernst.
»Ja, das glaube ich«, nickte ich, um ihn dann mit einem verschmitzten Lächeln zu necken: »Aber ich verspreche dir, ich werde das eine oder andere finstere Geheimnis für mich behalten. Damit du nicht schon heute Nacht vor mir fliehst.«
Meinen Kuss beantwortete er sehr leidenschaftlich.
Ich schmiegte mich an ihn, legte meinen Kopf an seine Schulter und genoss seine Wärme.
»Als ich vierzehn war, begann meine Ausbildung«, erzählte ich weiter. »Nicht wie üblich in einem venezianischen Kloster, sondern im Palazzo Ducale von Urbino. Mein Vater wollte, dass ich das Denken lerne, nicht das Nachbeten. Wissen war ihm wichtiger als Glauben. 1504 brachte er mich nach Urbino und stellte mich Herzog Guido da Montefeltro vor.
Der Geist weht, wo er will – so sagt man. In Urbino hatte er sich zum geistigen Wirbelsturm entwickelt. Urbino war damals einer der gebildetsten Höfe Europas, ein Ort der Fröhlichkeit und höfischen Ungezwungenheit. Obwohl ich als junge Frau nicht an einer Universität studieren konnte, erhielt ich an Herzog Guidos Hof doch die bestmögliche Ausbildung.
Der Herzog war mir vom ersten Augenblick an sehr sympathisch.« Versonnen lächelnd erinnerte ich mich an unsere erste Begegnung. »Ich weiß noch, wie ich ihm im großen Thronsaal des Palazzo Ducale offiziell vorgestellt wurde – und über den Saum meines Kleides stolperte. In meinen hohen venezianischen Zoccoli knickte ich um und stürzte zu Boden. Mit einem charmanten Lächeln reichte er mir seinen Arm und half mir auf. Dabei flüsterte er so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte: Einen so tiefen Hofknicks habe er von einer stolzen Venezianerin nicht erwartet – er fühle sich geehrt. Da mussten wir beide lachen. Er war wirklich sehr galant!
Und großzügig: Er gestattete mir, seine umfangreiche Bibliothek zu benutzen. Nach einigen Monaten durfte ich auch an den gelehrten Disputationen teilnehmen, die nach dem Abendessen im Saal der Engel stattfanden.
Im Palazzo
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