Die Evangelistin
Familie, der mit dem Schlachtruf ›Libertà!‹ auf den Lippen starb«, fuhr ich fort.
»Niccolò Tron regierte von 1471 bis 1473 als Doge von Venedig. Er hatte eine großartige Vision von Venedig! Das Banner des Islam mochte über Konstantinopolis wehen, aber ganz sicher nicht über Venedig! Der Prophet Mohammed statt des Evangelisten Markus als Schutzpatron der Stadt? San Marco wie die Hagia Sophia eine Moschee? Niemals! Was hätte Niccolò Tron alles erreichen können, wenn er nicht nach wenigen Monaten der Regentschaft gestorben wäre!
Im September 1501 wurde dann Filippo Tron vom Volk als Doge ausgerufen, obwohl er nicht offiziell gewählt worden war. Aber Filippo starb, bevor er das Amt antreten konnte, und wenige Tage später wurde Leonardo Loredan zum Dogen von Venedig gewählt.
Mein Vater Giacomo und mein Cousin Antonio, der Prokurator, sind mit diesen beiden Dogen verwandt. Und wenn mein Vater nicht in der Schlacht gefallen wäre, hätte er eines Tages seinem Freund Leonardo auf den Thron nachfolgen können.«
»Wer war deine Mutter?«
»Alexandra Iatros. Die Iatros sind der Athener Zweig der Florentiner Medici, daher meine Verwandtschaft mit dem Papst. Iatros ist die hellenisierte Namensform von Medici.
Meine Eltern haben sich 1489 in Athen kennen gelernt, wo mein Vater auf dem Rückweg von Istanbul nach Venedig als Botschafter der Serenissima oft Station machte.
Als Humanist kletterte er durch die Ruinen von Platons Akademie, grub eigenhändig unterhalb der Akropolis eine Büste des Perikles aus und wühlte sich monatelang durch die griechischen Bibliotheken, um antike Schriften zu finden. Er wollte ein Buch über Megas Alexandros – Alexander den Großen – schreiben, den er sehr verehrte. Als König, als Feldherr, als Philosoph und als Mensch.«
»Als Philosoph?«, fragte Elija verblüfft.
»Megas Alexandros war ein Schüler von Aristoteles. Trotz seines aufbrausenden Temperaments war er ein weiser Herrscher, der bewundernswert mutige Entscheidungen traf. Megas Alexandros, der Eroberer der halben Welt, hatte großartige Ideen von einem friedlichen Zusammenleben der Völker, die von einem König in Babylon regiert werden sollten. Wenn das keine Staatsphilosophie ist, dann weiß ich nicht, was Aristoteles ihm mit dem Stock eingeprügelt hat!«
Elija lachte. »Woher weißt du so viel über Alexander?«
»Ich habe meinem Vater geholfen, sein Buch zu schreiben. Er hat mit mir die großen Schlachten bei Issos und Gaugamela mit Schachfiguren nachgespielt. Und da er mich nicht nur das Reiten, sondern auch das Fechten gelehrt hatte, kämpften wir manchmal im Garten gegen den indischen König. Der Canalazzo war dann der Indus und die hohe Gartenmauer die Bergkette des Hindukush. War das ein Spaß!«
»Ich würde das Buch gern lesen«, bat mich Elija.
»Es ist nie fertig geworden. Mein Vater starb, bevor das Manuskript vollendet war. Er starb, als wir auf unserer imaginären Reise gerade Babylon erreicht hatten«, erwiderte ich. »Eines Tages werde ich das Buch vollenden und unter seinem Namen veröffentlichen.«
»Du hast deinen Vater sehr geliebt.«
»Er war der beste Vater, den ich mir wünschen konnte.«
»Obwohl er dich wie einen Sohn behandelt hat?«
» Weil er mich wie einen Sohn behandelt hat. Viel hat er von mir verlangt: Selbstbeherrschung, Selbstverantwortung, Selbstachtung. Aber er hat mir auch viel gegeben: Vertrauen, Respekt und Liebe. Er hat mir jede Freiheit gelassen, selbst herauszufinden, was ich tun wollte und was nicht. Ob ich katholisch oder orthodox sein wollte. Ob ich Französisch lernen wollte, Lateinisch oder Arabisch. Ob ich Humanistin werden wollte. Alle Entscheidungen hat er mich selbst treffen lassen.
Nie hat er mir Grenzen gesetzt, wie weit ich gehen durfte. Er sagte immer: ›Die Grenzen eines Menschen liegen in seinem Herzen und in seinem Verstand. Was du im Leben brauchst, ist ein Mensch, der dich dazu bringt, das zu tun, was du tun kannst.‹«
»War deine Mutter ein solcher Mensch?«
»Ja, das war sie. Die beiden haben sich sehr geliebt. Sie haben sich auf der Akropolis in Athen kennen gelernt, als mein Vater die Moschee im Parthenon besuchte. Es war Liebe auf den ersten Blick. Die Hochzeit fand in Athen statt, in einer orthodoxen Kirche, was die Familie in Venedig, allen voran mein Cousin Antonio, meinem Vater sehr übel nahm. Nach Antonios Ansicht kam eine griechisch-orthodoxe Hochzeit einer Satansmesse gleich. Adelige Venezianer heiraten adelige
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