Die ewige Bibliothek
außerdem, dass Juda noch gar nichts davon zu Ohren gekommen war – aus irgendeinem Grunde war es ihm lieber, Juda hatte einen guten Eindruck von ihm, als ihm das Dilemma eingestehen zu müssen, in dem er sich befand.
Er stand an einem Zeitungskiosk, überflog die Zeitschriften und dachte darüber nach, ob er es riskieren sollte, seine Tochter in Amerika anzurufen, als ihm ein Satz ins Auge fiel. Er griff danach, starrte ihn eine Minute lang an, und eine wilde Theorie begann in seinem Kopf Gestalt anzunehmen.
Michael ließ ein wenig Kleingeld in die Hand des überraschten Verkäufers fallen, riss die Seite aus dem Magazin und rannte davon.
»Verdammt, ich weiß, dass er da drin ist!«, sagte Michael zu Galens Sekretärin. »Ich muss ihn nur eine Minute sprechen! Nur eine Minute!«
»Ich hab Ihnen bereits gesagt, dass der Rektor sich auf eine sehr wichtige Reise vorbereitet«, erklärte sie steif.
»Das weiß ich, Nora! Ich habe bei der Planung mitgeholfen, erinnern Sie sich? Nur…«
Die Tür öffnete sich unvermittelt, und Galen winkte ihn herein. »Das geht in Ordnung, Frau Bitter«, sagte er beschwichtigend. »Ich werde den Professor empfangen.«
»Vielen Dank, Galen«, sagte Michael, warf der Sekretärin ein schiefes Lächeln zu und betrat das Büro.
Galen bedeutete ihm, sich zu setzen und ließ sich dann selbst auf der Schreibtischkante nieder. Es war nur ein Tag vergangen, aber er sah aus, als sei er um zehn Jahre gealtert.
»Galen«, sagte Michael, »geht es Ihnen gut? Sie sehen…«
Galen schnitt ihm das Wort ab. »Mir geht es gut. Ich musste eine Menge lesen, das ist alles. Was wollen Sie?«
Michael faltete die zerknitterte Seite auseinander und legte sie neben der Edda auf den Schreibtisch. »Sehen Sie sich das an.«
»Sagen Sie mir schon, worauf ich achten soll, Langbein.«
»Das ist ein Artikel über Phineas Gage.«
»Und?«
»Und schauen Sie sich den Namen der Eisenbahngesellschaft an, für die er gearbeitet hat.«
Galen seufzte verzweifelt und las sich den Artikel durch. Er runzelte die Stirn und las ihn noch einmal. »Rutland and Burlington’s? Genau wie…«
»Genau wie die Besitzer des Nachtclubs, in dem Obskuro aufgetreten ist – die selben beiden Männer, die die verlorene Edda wieder gefunden haben. Das kann kein Zufall sein.«
Galen dachte einen Augenblick darüber nach, knüllte dann das Blatt zusammen und warf es in den Papierkorb. »Bei Juda ist alles Zufall «, sagte er und setzte sich in seinen Stuhl. »Ich verstehe nicht, was das bedeutet.«
»Juda hat gesagt, alles sei entweder Berührung oder Deutung, richtig? Nun, ich frage mich, ob er irgendetwas mit den falschen Zahlen in meiner Anschaffungsakte zu tun hat.«
»Warum sollte er so etwas tun?«
»Ich… äh…« Michaels brillante Hypothese fiel mit einem Mal in sich zusammen. Warum war er so sicher gewesen, dass Juda bei seiner Entlassung die Hand im Spiel hatte?
»Er pfuscht wenigstens nicht an seiner Abrechnung herum«, sagte Galen. »Gerade heute Morgen habe ich den größten Freibetrag unterzeichnet, den die Universität dem Institut für Mathematik jemals bewilligt hat, und ich bezweifle nicht, dass Juda über jeden Schilling, den er ausgibt, Rechenschaft ablegen wird.«
Michael erinnerte sich plötzlich an das andere Thema, über das er mit Galen sprechen wollte. Er zog eine Kunststoff-Hülle aus seinem Mantel und legte sie auf den Schreibtisch. In der Hülle befand sich der Upsala-Tanz.
Galens Gesicht wurde rot, als er das Schriftstück erkannte. »Sie wagen es?«, rief er. »Nach dem, was gestern hier passiert ist, werden Sie jetzt auch noch zum Dieb?«
»Eigentlich möchte ich es zurückbringen«, sagte Michael. »Ich hatte es mit nach Hause genommen, als ich an der Edda arbeitete. Galen, bitte – lesen Sie es einfach nur durch. Ich glaube, es hängt mit dem, was hier passiert, auf eine Weise zusammen, die ich nicht erwartet habe.«
Galen schmollte noch einen Augenblick und griff dann nach dem teuren Artefakt. Es bestand aus sechs Strophen zu jeweils vier Zeilen. Er starrte es an und runzelte dann die Stirn, als ihm einfiel, dass er kein Alt-Isländisch lesen konnte.
»Hier«, bot sich Michael eilig an, »ich werde es übersetzen. Die einzige wirklich wichtige Strophe ist die vierte:
Uralte Gewässer hüten das Herz des Schatzes. Der Drache
Lebt unter uns, unbemerkt. Ein Rabe spricht
Der Wasserspiegel sinkt, Ymir grüßt Yggdrasil und die Wurzeln
Wählen die Himmel.«
Als er
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