Die ewige Bibliothek
Fähigkeit, eine Umkehrung ohne eine Anabasis-Maschine oder sogar ohne die Mittel der Bibliothek vorauszusehen. Tatsächlich reichte ein Element des Zyklus’, den Wagner verworfen hatte, fast aus, um die Bedeutung all meiner anderen Entdeckungen zu überschatten. Aber das stand nicht im Palimpsest.«
Michaels Augen flatterten, dann wurden sie schmal, und er konnte wieder deutlicher sehen. »Der Upsala-Tanz… Die vierte Zeilengruppe über den Schatz… Den Schatz der Nibelungen…«
»Sehr gut«, sagte Juda anerkennend. »Ich habe Sie wieder einmal unterschätzt.«
»Aber wenn er wahr ist…« Mehrere Gedankenketten durchzuckten Michaels Geist, während Juda wartete. Plötzlich blickte der Gelehrte auf, ein schwache Welle der Beunruhigung zog über sein bleiches Gesicht. »Der Schatz… das ist es, nicht wahr? Das ist der Schlüssel…«, flüsterte er schwerfällig.
»Hmm«, machte Juda. »Ich habe Sie wirklich unterschätzt. Wenn Sie sich das alles selbst zusammengereimt haben, hätten wir gemeinsam wohl bemerkenswerte Fortschritte machen können. Andererseits ist genau diese Art von Einsicht der Grund, warum Sie von der Universität entfernt werden mussten, sobald die Übersetzung erledigt war. Nichtsdestotrotz«, schloss er, »ist Galen auf lange Sicht derjenige, der gebraucht wird. Und in diesem Fall ist es besser, einen Teufel zu haben, der nicht weiß, dass er einer ist.«
Vor dem Eingang breiteten sich Hektik und Lärm aus, und man konnte sehen, dass sich die Schatten auf der anderen Seite der Türen jetzt weniger ziellos hin und her bewegten.
»Ah«, sagte Juda. »Da kommt die Kavallerie.«
Er winkte den anrückenden Notärzten zu, die durch die Türen am Kopfende des Saales eilten, und einen Augenblick lang hüpfte Michael das Herz in der Brust. Dann rief Juda Ihnen zu: »Bitte, bitte beeilen Sie sich. Er wird schnell schwächer – ich kann kaum einen Puls fühlen, und er atmet nicht mehr…« – und Michael wusste, dass es wirklich vorbei war.
»Eine letzte Frage, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Juda sah den nahenden Notärzten entgegen. »Dann aber schnell.«
»R, dieser abtrünnige Lehrer – der versucht hat, die Umkehrung zu untergraben. Ich würde seinen Namen kennen, wenn Sie ihn mir nennen würden, oder? Wer war er?«
Juda lächelte. »Ganz der Historiker, was? Ja, Sie dürften ihn kennen. Es war Romulus – der Gründer von Rom.«
Das Blut verließ Michaels Gesicht. »Dann… Dann war der Schüler, dieser Erlkönig, dessen Umkehrung das Heilige Römische Reich zerstören würde…«
Juda zwinkerte ihm zu. »In der Tat. Haben Sie etwa gedacht, er hätte seine Zeit nur damit verbracht, durch Galiläa zu wandern und in Gleichnissen zu sprechen? Versuchen Sie es doch mal positiv zu sehen – Sie befinden sich in erstklassiger Gesellschaft.«
»Vielen Dank auch«, sagte Michael und seine Kraft schwand. Nur noch ein paar Sekunden.
»Sie haben länger durchgehalten, als ich erwartet hätte«, sagte Juda kühl und kniete neben ihm nieder. »Gut für Sie. Schlecht für Sie.« Er beugte sich weiter vor, drückte einen Knöchel fest in den unteren Bereich von Michaels Kehle und erhöhte rasch den Druck.
Durch den sich verdichtenden Dunst konnte Michael sehen, wie der Notarzt gerade die Stufen am anderen Ende der Bühne erreichte. Juda sah seinen Blick und schüttelte den Kopf, ein weiches, fast sanftes Lächeln auf seinem Gesicht. »Es tut mir Leid«, flüsterte er, »aber sie kommen leider etwas zu spät.« Er beugte sich vor und legte sein ganzes Gewicht in den Druck auf die Kehle des Gelehrten, seinen Rücken den besorgten Gesichtern des Notarzt-Teams zugekehrt. »Der Sommer ist vorbei und die Sonne untergegangen. Sag Gute Nacht, Siegfried.«
Einen Augenblick lang glaubte Juda, sie würden es tatsächlich schaffen – trotz zerquetschter Kehle, Blutverlust und allem – doch nachdem die Notärzte sich eine dreiviertel Stunde an Michael zu schaffen gemacht hatten und Teile des Gelehrten mit einer Vielzahl lebensrettender Geräte verbunden waren, kam er zu der Feststellung, dass keine Reaktion mehr erfolgen werde. Unauffällig entfernte er sich aus dem Schatten, von dem aus er die Bemühungen um den leblosen Erlkönig beobachtet hatte.
Es dauerte mehrere Stunden, bis er sich von dem Vergnügen losreißen konnte, der Menge aus Festivalveranstaltern, Sanitätern, Polizisten und Reportern dabei zuzusehen, wie sie mit mehreren hundert vormals panischen Opernbesuchern
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