Die Fährte der Toten
Handschuhfach.'
Die Straße führt in einen langen Tunnel, und die Neonröhren an der Decke tauchen das Innere des Wagens in ein kaltes aseptisches Licht. Lee öffnet die Klappe und fischt einen weißen Umschlag aus teurem Papier heraus, der keinen Adressaten und auch keinen Absender enthält.
'Der wurde bei mir im Postfach hinterlegt. Los, mach ihn auf.'
Im Umschlag ist eine Einladung zu einer Vernissage, die heute eröffnet wird.
'Und?'
'Das ist nicht alles.'
Lee fasst noch einmal in den Umschlag, zieht eine Todesanzeige hervor und betrachtet sie schweigend.
'Ich habe Erkundigungen eingezogen, und ich muss sagen - touché. Nicht viele hätten den Mut, einen Mann wie Sverkas zu töten. Ich weiß nicht, was mich mehr beeindruckt – deine Kaltblütigkeit oder deine Konsequenz. Wenn du jemand nicht leiden kannst, ist er nicht mehr lange da, das muss ich dir lassen.'
Jennifers Stimme scheint von weit weg zu kommen. Lee will etwas sagen, bringt aber kein Wort heraus. Was dir gehört, das kehrt auch zu dir zurück. Und du hattest gedacht, du kämst davon.
'Ich weiß nicht, wer diese Botschaft geschickt hat. Es spielt auch keine Rolle. Wer auch immer Dein Feind ist, er hat die weißen Figuren. Und er wird dort sein.'
'Nehmen wir mal an, er ist da. Was machen wir dann? Ihn an Ort und Stelle umlegen?'
'Red keinen Unsinn. Wir werden herausfinden, wer es ist. Dann werden wir unser weiteres Vorgehen überdenken.'
Nach diesen Worten schweigt Jennifer, während Lee nur gedankenverloren nickt und wieder aus dem Fenster des Wagens in die Nacht hinaus starrt.
***
Als sie angekommen sind, ist die eigentliche Eröffnung bereits vorüber, doch Jennifer scheint es egal zu sein, dass sie zu spät sind. Sie betritt die wie ein künstliches Atrium angelegte Halle, als sei alles in bester Ordnung und begrüßt freundlich nickend ein paar der anderen Gäste, die sich bereits mit einem Drink in der Hand zerstreut haben und durch die Ausstellung schlendern.
Lee selbst fühlt sich völlig fehl am Platze, und dieses Gefühl nimmt nicht ab, als sie bemerkt, dass man sie wie ein exotisches Tier betrachtet, das im Gefolge seiner Herrin mitgekommen ist. Eine Frau rempelt Lee leicht an und entschuldigt sich murmelnd, und als Lee sich umsieht, ist Jennifer von einem Augenblick auf den anderen in der Menge verschwunden.
Na ja, dann kann sie sich ebenso gut ein paar der Bilder anschauen. Wie hatte Jennifer es doch ausgedrückt, als Lee sie auf den Künstler angesprochen hatte, der dort seine Bilder ausstellt? Ein mäßig talentierter Höllen-Breughel, der seine Möchtegern-Kunst zum Besten gibt.
Lee bleibt vor einem Gemälde stehen. Eine dämonische Kreatur, die mit kräftigen Zügen durch ein Meer von Blut und abtrennten Gliedmaßen zu schwimmen scheint. Nett. Sieht fast so aus wie der moderne Kram, den sich Daryll so gern in ihre Bude hängt.
Neben ihr stehen einige Besucher mit seltsam geformten Sektkelchen in der Hand und diskutieren angeregt über das Bild, während sie Lee gar nicht wahrzunehmen scheinen. Ihnen scheint das Bild eine Menge zu sagen, denn sie schwadronieren endlos über die Pinselführung und warum sie so revolutionär ist.
Lee spürt, wie sich Unruhe in ihr breitmacht. Sie ist nicht hier, um sich diesen Mist anzuschauen. Sondern weil sie jemand herbestellt hat. Dem sie liebend gerne die Eingeweide herausreißen würde, weil sie jetzt dieses ganze Elend ertragen muss. Gleichzeitig ist da noch etwas anderes – dieses Gefühl, einen fürchterlichen Fehler zu machen. Sie spürt das Verlangen, bei Daryll anzurufen, sie zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Das Gemurmel um sie herum verwandelt sich in einen monotonen Sing-Sang, der sie langsam aber sicher in den Wahnsinn treibt, als Jennifer plötzlich neben ihr auftaucht.
'Wir gehen.'
'Auf einmal? Wo ich mich doch so wunderbar amüsiere?'
'Was wir wollten, haben wir bekommen, und mehr als das.'
'Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.'
'Jetzt ist nicht die Zeit für dumme Scherze. Komm jetzt.'
'Ist ja gut, ist ja gut...'
Kurz bevor sie durch die Tür in den in den strömenden Regen hinaustreten, wirft Lee noch einen Blick zurück. Kurz hat sie das Gefühl, dass sämtliche Anwesenden ihre Unterhaltungen eingestellt haben und sie anstarren, und sie ist froh, als der Wagen vorgefahren wird und sie einsteigen
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