Die Fährte der Toten
willst du hinaus?'
'Sei dir deiner Macht über die Menschen nicht zu sicher. Ja, du kannst die Sterblichen beherrschen, Ihnen Furcht oder Respekt einflössen. Sie dazu bringen, dass sie dich verehren oder sogar lieben. Nur denk immer an eines - die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Verrats. Menschen sind schwach. Egal wie sehr du glauben magst, dass du dir ihrer sicher sein kannst – sei auf der Hut. Denn wenn sie es schaffen, Ziel deiner Leidenschaft zu werden, können sie dir schaden. Ob sie das wollen oder nicht, spielt dabei keine Rolle.'
'Wie sollen sie das denn machen?'
'Indem unsere Feinde, die es nicht wagen würden, gegen uns vorzugehen, sich an ihnen vergreifen. Und damit uns treffen. Viele Mächtige unserer Art sind gefallen, weil sie nicht von ihren geliebten Sterblichen lassen konnten.'
‘Du weißt, wovon du redest.'
Jennifer nickt nur und sieht dann wieder hinab in den von Neonlicht erleuchteten Orkus unter ihnen, bevor sie fortfährt.
'Deine Ausbildung ist vorerst abgeschlossen. Ich werde dich freigeben. Du wirst über eine Zuflucht verfügen, welche dir gehört und in der dein Wort gilt. Ich werde dir helfen wenn es nötig sein sollte, aber du, und nur du, wirst von nun an verantwortlich sein für alles, was du tust oder unterlässt und mit wem.'
'Mach dir deswegen keine Sorgen, ich werd dir schon keinen Ärger bereiten. Und wenn doch, werd ich mich selbst drum kümmern. Versprochen.'
'Gut. Dann – wünsche ich dir viel Glück. Nutze deine Freiheit weise, Schwester.'
'Werd ich machen...'
Jennifer nickt Lee zu, und Lee dreht sich auf dem Absatz um und geht mit schnellen Schritten zum Fahrstuhl zurück.
Für den Bruchteil einer Sekunde will Jennifer Lee zurückhalten, den Wunsch des Gesetzes missachten und ihr alles erklären. Doch sie verharrt regungslos. So viele Jahrhunderte hat sie dem Befehl des Gesetzes Folge geleistet und über ihre sterblichen Nachkommen gewacht. Nun ist mit Lee das Ende ihrer Linie erreicht, und Lee allein wird nun entscheiden, ob all die Mühen von Erfolg gekrönt sein werden. Von nun an kann ich ihr nicht mehr helfen, denkt Jennifer.
‘Du magst glauben, dass das Schlimmste vorbei ist und du endlich deine Freiheit erlangt hast. Dabei hat Dein Kampf gerade erst begonnen, kleine Schwester.'
Jennifers Stimme hallt durch die Stille, doch die Türen des Aufzugs haben sich bereits hinter Lee geschlossen.
Engel / 7
'Ich kann die Toten flüstern hören. Manchmal.'
Es war Lee einfach so raus gerutscht, und Jennifer hatte sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck angesehen und die Stirn gerunzelt.
'Fluch und Segen zugleich, kleine Schwester.'
Auf ihre Frage, was sie denn damit nun wieder meine, hatte Jennifer nur geschwiegen. Und Lee wusste, dass es keinen Sinn machen würde nachzubohren. Genauso wenig wie es etwas bringt, sich über kurzfristige Einladungen zu beklagen, die so gar nicht in ihren Terminkalender passen, denkt sie.
Klar, sie kann jetzt seit ein paar Monaten endlich tun und lassen was sie will. Sie ist ein großes Mädchen mit eigenem Luxusappartement, eigenem Luxusschlitten und eigener Luxusfreundin. Doch wenn Jennifer der Meinung ist, dass sie zu einer todlangweiligen Party müssen, dann ist es vorbei mit der Freiheit. Immerhin, seit der Nacht über den Dächern der Stadt hat Jennifer ihr wirklich eine lange Leine gelassen. Fast zu schön um wahr zu sein, denkt Lee.
Sie verzieht leicht den Mund und betrachtet sich im Spiegel. Wieder beschleicht sie dieses Gefühl der Unwirklichkeit. Bist das wirklich du? In diesem Abendkleid? Oder ist das auch schon ein weiterer Kokon, den du um deine wahre Natur spinnst?
'Schick', sagt Daryll. Lee dreht sich um und lässt ihren Blick über Darylls schlanke Gestalt wandern. Zum Anbeißen, wirklich. An diesem Exemplar hätte selbst Jennifer wohl nichts auszusetzen.
'Findest du? Ich kann mich nicht wirklich daran gewöhnen.'
Lee dreht sich ein wenig herum und betrachtet abwechselnd Daryll und sich selbst im Spiegel. Im Gegensatz zu ihr hat Daryll wahrscheinlich noch nie etwas anderes getragen. Obwohl - sie fühlt sich inzwischen gar nicht mehr so unwohl in ihrem neuen Outfit. Steter Tropfen höhlt halt den Stein, denkt sie. Am Anfang hatte sie sich gesträubt, aber Jennifer ließ nicht mit sich reden.
'Wenn du dich mit deiner Kleinen triffst, bist du frei, so herumzulaufen wie du magst. Aber wenn du dich
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