Die Fährte der Toten
auf die Füße getreten fühlt, wenn du so verflucht neugierig bist.
'Weißt du', sagt Lee 'wir alle stehen irgendwann an dem Punkt, an dem wir uns entscheiden, vorwärts zu gehen. An dem wir nicht mehr zurückschauen und alles was war hinter uns lassen. Wenn wir diesen letzten Schritt gehen, können wir nicht mehr zurück. Es ist ein Punkt ohne Wiederkehr. Du bist jetzt an diesem Punkt angekommen. Bewegst dich auf die letzte Ausfahrt zu. Wenn du jetzt nicht abbiegst, gibt es kein Zurück mehr. Nicht für dich und nicht für mich. Also sag mir, und überlege gut - soll ich dir von Dingen erzählen, die zwischen Himmel und Erde liegen?'
Du stehst an der Pforte zur Hölle und schließt einen Dämonenpakt, denkt Tanya. Sei schlau und lass den Kelch an dir vorübergehen. Tanya versucht zu sprechen, will Lee sagen, dass sie gar keine Antwort möchte, dass sie unwissend bleiben will, doch stattdessen erwischt sich dabei, wie sie nickt. Lee lächelt freudlos.
'So sei es.'
Sie sammelt sich ein wenig, bevor sie fortfährt.
'Ich bin wohl das, was die Menschen einen Vampir nennen. Eigentlich dürfte ich dir das gar nicht erzählen, ohne dich direkt im Anschluss daran zu töten.'
Warum tust du es dann, denkt Tanya.
'Weil man mich nicht gefragt hat, ob ich an dieser Veranstaltung teilnehmen will. Deshalb. Ich pflege Regeln zu ignorieren, wenn sie mir nicht gefallen. Habe ich schon immer getan, werde ich weiterhin tun.'
Sie macht eine kurze Pause, bevor sie fortfährt.
'Was den für dich wohl wichtigsten Aspekt angeht – ja, ich ernähre mich von Blut. Nichts anderes stillt meinen Hunger. Bevor du jetzt Angst bekommst – nein, ich muss dafür nicht töten. Und ja, ich kann mich beherrschen. Wäre es nicht so – ich hätte dich schon längst umgebracht.
Was dagegen die ganzen anderen Mythen angeht – vergiss sie. Es spielt dabei keine Rolle, ob sie wahr sind oder nicht. Sie verstellen dir nur den Blick auf das, was ich bin. Verstehst du das?'
'Ja. Glaub ich wenigstens. Sag mal, wie bist du eigentlich eine...Vampirin...geworden?'
'Jemand hat mich verwandelt. Ein anderer Vampir. Sein Name war Frank Gettys. Er tat es aus freiem Willen, so viel weiß ich. Es ist nicht so, dass man einfach so ein Wesen erschafft wie ich jetzt eines bin. Niemand, der auch nur ansatzweise bei Verstand ist, stört den Schlaf der Ungeheuer. Und Gettys mag ein Monstrum sein, dumm oder wahnsinnig ist er nicht. Doch warum er es tat - ich weiß es nicht. Er hat es mir nie gesagt, und ich habe es bis heute nicht herausgefunden. Ich habe eine dunkle Ahnung. Doch dazu werde ich dir jetzt nichts weiter erzählen, klar?'
'Ok...willst du mir was über diesen Gettys selbst erzählen? Oder ist das in deinem Nichts inklusive?'
'Nein. Gettys ist alt. Wie alt genau weiß ich nicht. Auf jeden Fall älter, als Menschen werden. Er hat dieses Land schon durchstreift, als die Weißen hier noch nichts zu sagen hatten. Gettys ist ein Killer, und er war wohl schon einer, als er noch ein Mensch war. Wer ihn erschaffen hat und warum – keine Ahnung. Was ich weiß ist, dass er seine Menschlichkeit schon vor langer Zeit an den Nagel gehängt hat. Würde er herausfinden, dass es dich gibt und dass du mit mir zusammen bist und ich dir was von ihm erzählt habe – er würde dich töten, einfach so, wie man einen Käfer zertritt. Und nichts und niemand könnte ihn davon abhalten.'
'Was ist mit dir? Könntest du ihn nicht aufhalten? Immerhin bist du doch wie er.'
'Klar bin ich wie er. Dummerweise hat er mir ein paar Jahrhunderte voraus. Und du weißt ja - der Meister ist immer besser als seine Schülerin.'
'Ja, klar. Meistens jedenfalls. Wo ist dieser Frank denn jetzt gerade?'
'Wer weiß? Er...ach lassen wir das. Wenn ich zu viel an dieses Schwein denke, kriege ich schlechte Laune.'
Lee macht eine kurze Pause.
'Kommen wir zu deiner anderen Frage. Der nach meiner Familie. Natürlich hatte ich eine. Vor einer gefühlten Ewigkeit jedenfalls. Sie sind alle längst tot und begraben. Wahrscheinlich ist es auch besser so. Ich wüsste bis heute nicht, wie ich ihnen all das erklären sollte.'
Lees Blick wandert an Tanya vorbei in die Dunkelheit und das Nichts, das dahinter liegt.
'Meine Familie ist erloschen, und die Erinnerung an sie ist eine verwitternde, sich auflösende Linie. Je mehr ich versuche, sie in meinen Gedanken zu bewahren, umso mehr entgleitet sie mir. Gesichter,
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