Die Fährte der Toten
als wäre alles erst letzte Nacht passiert.
Einen Moment steht sie bewegungslos auf der Terrasse und betrachtet die Dunkelheit des Waldes. Der Gedanke, ihre wahre Gestalt anzunehmen und einfach in die Nacht hinaus zu laufen, auf der Suche nach Beute, nach etwas, das sie töten und zerreißen kann, ist durchaus verlockend. Doch sie entscheidet sich dagegen. Verlier dich nicht! Werd nicht zu einem Monstrum!
Außerdem - sie könnte die Zeit vergessen und sich einen Platz irgendwo da draußen suchen müssen, und Tanya könnte sie vermissen und unruhig werden. Lee schüttelt leicht den Kopf. Seit wann macht sie sich Gedanken um einen Menschen? Die Kleine hat ihr anscheinend ein wenig den Kopf verdreht. Das ist sie gar nicht mehr gewohnt. Was ist eigentlich los mit ihr? Kaum läuft ihr mal eine über den Weg, die ihr Typ ist, und schon führt sie sich auf wie eine Teenager-Göre.
Aber das ist nicht alles, und sie weiß es auch. Etwas hat sich verschoben, und Lee ist sich nicht sicher, ob sie damit wirklich glücklich ist. Sie hat eine Verantwortung übernommen, die sie nicht mehr ablegen oder weiter delegieren kann. Nämlich nicht nur für sich selbst, sondern auch für Tanya. Jennifer hat sie immer davor gewarnt. Fast kann Lee ihre Stimme, ihren Rat, den sie inzwischen so sehr vermisst, im Kopf hören.
'Sei vorsichtig, wie viele Gefühle du jemandem entgegenbringst. Egal ob Mann oder Frau - du begibst dich immer in eine Abhängigkeit hinein, von der du viel zu spät merken wirst, wie sehr sie dich bindet und schließlich in Ketten legt. Du magst immer die Stärkere sein, was deinen Körper angeht, aber das gilt noch längst nicht für deinen Geist, und es wird immer deine Last sein. Nicht die deines Objektes der Begierde.
Nenn es Liebe, Leidenschaft, Mitgefühl – all das wird dich angreifbar machen. Verletzbar. Erpressbar. Irgendwann wirst du unvorsichtig. Und das ist es, was schon so vielen unserer Art den Tod gebracht hat. So viele schon sind gefallen ob ihres Verlangens.'
Wie recht sie doch hatte. Daryll hätte ihr als unumstößlicher Beweis eigentlich ausreichen müssen. Stattdessen hat sie Tanya aus einer Laune heraus mitgenommen – immer schön nach dem Motto, dass die Herdplatte gar nicht so heiß gewesen sein kann, als das man es nicht noch einmal versuchen könnte.
Doch was, wenn es gar keine Laune war? Sondern etwas anderes? Wie zum Beispiel der Wunsch, nicht mehr allein zu sein in dieser kalten mörderischen Welt? In der sie höchstpersönlich eines der wahren Monster ist? Vielleicht, denkt sie, werden selbst Monster einmal müde. Ein bitteres Lächeln erscheint auf Lees Lippen. Wer weiß, vielleicht war selbst ein Frank Gettys einfach nur einsam und erschuf sie deswegen. Aus einer Laune heraus. Was wäre das für ein Witz.
Kurz wägt sie den Gedanken ab, um ihn dann zu verwerfen. Nein, das war nicht sein Antrieb. Es muss einen anderen gegeben haben. Er hatte etwas mit ihr vor, und er ist noch nicht fertig damit. Sonst hätte er sie wahrscheinlich schon längst umgelegt. Ein diffuses Gefühl in ihrem Innern sagt ihr, dass sie es bald herausfinden wird. Und das es ihr so gar nicht gefallen wird.
Lee schüttelt den Kopf. Ein paar Runden im Pool sollten ihr wieder einen klaren Kopf verschaffen . Sie streift ihren Kimono ab, wirft ihn auf eine Liege und lässt ihren Blick einmal aufmerksam über die Umgebung streifen. Das Mondlicht glitzert auf der Wasseroberfläche, und sie genießt es, auch wenn es nur ein Abklatsch des wärmenden Lichts der Sonne ist, die sie so vermisst. Mit einigen geschmeidigen Schritten erreicht sie den Rand des Pools, springt hinein und zieht einige Bahnen, ohne auch nur einen Hauch von Anstrengung zu verspüren. Dann lässt sie sich ein wenig auf dem Rücken treiben und betrachtet den Trabanten, der gleichgültig zu ihr zurückschaut.
Kurz huschen ihr Bruchstücke von Mythen und Legenden durch den Kopf. Ob es wohl noch andere monströse Wesen wie sie gibt? Vielleicht treibt sich ja ein Werwolf da draußen herum. Nicht doch, denkt sie, es ist gerade kein Vollmond, also ist die Chance eher gering. Sie lächelt. Was für ein Blödsinn ihr da gerade durch den Kopf -
Sie bringt den Gedanken nicht zu Ende und schließt stattdessen die Augen, um sich auf die Geräusche um sich herum zu konzentrieren. Es ist still. Unnatürlich still. Die Zikaden haben aufgehört zu singen. Das Geräusch des Windes in den Zweigen der Tannen ist weiterhin
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