Die Fährte der Toten
erwachen. Sie schüttelt sich unwillkürlich und versucht den Eindruck zu verdrängen. Aber es will ihr nicht gelingen.
***
'Wieso hast du ihn umgebracht?'
Tanyas leise Stimme klingt wie von ferne an Lees Ohr wie das Flüstern des Windes in den Bäumen. Eine naive Frage. Oder doch nicht? Lee starrt in die Nacht hinaus. Bald wird die Sonne aufgehen. Die Welt wird erwachen. Sie selbst wird in Finsternis versinken. Eigentlich übt sie sich immer in Kontemplation in Momenten wie diesen. Beherrsche dich selbst, bevor das, was unser Geburtsrecht ist, uns beherrscht.
So hat es ihr Jennifer beigebracht, und es war ein weiser Rat. Diesmal jedoch schafft sie es nicht, sich zu konzentrieren. Sie spürt, dass sie dieses Etwas in ihr für den Moment beruhigt hat. Doch schon bald wird es wieder erwachen. Erneut seinen Tribut fordern. Aber das ist es nicht, was sie beunruhigt. Nein, es gibt noch etwas anderes, das in ihr nagt.
Aus ihrer Erinnerung antwortet einem Echo gleich eine Stimme aus der Vergangenheit.
'Wer dahinter steckt - ich weiß es nicht. Es kursieren Gerüchte. Über eine alte Sache, bei der Frank wohl mit von der Partie war. Was mit Drogen und Zeugenschutzprogrammen. Jemand hat geplaudert, jemand anderes hat sich eingemischt, jemand entkam, es gab Stress und es gab einen Toten zu viel oder zu wenig, je nachdem wie man es sieht.'
Giorgios Stimme hallt ihr aus der Vergangenheit entgegen. Was hatte diese Ratte von einem Informanten sonst noch gesagt? Er würde sich drum kümmern und ihr weitere Informationen besorgen. Hat er vielleicht sogar. Warum hat sie ihn danach nie wieder angerufen? Die Frage flackert durch ihren Kopf wie ein Irrlicht, das sie ins Verderben locken will. Weil du die Antwort gar nicht hören wolltest. Weil du Angst hast vor dem was du hören könntest, denkt sie.
Sie schüttelt den Kopf. War es so? Hat sie Angst? Sie versucht, an etwas anderes zu denken, aber ihre Gedanken hören nicht auf, um diese Frage zu kreisen, und schließlich begibt sie sich gereizt und vor der Zeit in ihr Refugium, während die Saat des Verdachtes, die sich in ihre Gedanken gebohrt hat, aufzugehen beginnt.
Menschen / 6
Zeit ist relativ, und Menschen sind Gewohnheitstiere. Oder wie lässt es sich sonst erklären, dass sie sich nach ein paar Wochen bereits prima an ihre neue Lage gewöhnt hat? Klar, manche Sachen sind immer noch ungewohnt. Sie kann nicht einfach tun und lassen, was sie will. Bummeln gehen oder ins Kino oder irgendwo auf einen Drink rein – alles nicht drin. Weshalb sie am Anfang auch immer wieder überlegt hatte, einfach doch den Versuch zu wagen und abzuhauen.
Tagsüber ließ sich Lee ja nie blicken. Was ja auch logisch war nach allem, was Tanya sich aus ihrem profunden Wissen über solche Wesen zusammengekratzt hatte, das aus dem üblichen Murks aus Film, Funk und Fernsehen bestand. Sonnenlicht war nicht so prickelnd, weil auch ein hoher Lichtschutzfaktor bei den Viechern nicht half. Alternativ auch gern genommen - das gute alte Kreuz, ein schick angespitzter Holzpflock, ein bisschen Knoblauch und ein silbernes Kruzifix – und ab geht die Post. Einfach mal in das Schlafzimmer von Lady Dracula spaziert, flott die Jalousien hoch gelassen, den Hammer geschwungen und dann zuschauen, wie die liebe Lee zu Staub zerfällt. Danach einfach die Autoschlüssel schnappen und ab durch die Mitte, hinein ins pralle Leben.
Ein ganz simpler Plan. Den sie ganz schnell ad acta gelegt hatte. Denn was tun, wenn sich das mit dem Sonnenlicht genau wie der ganze Rest als Märchen herausstellt? Das wäre fatal. Und zwar für sie. Mal abgesehen davon, selbst wenn es wider Erwarten klappen würde – wo sollte sie hin? Zu den Bullen? Zu ihrer Familie, von der sie nicht einmal genau wusste, wo sich dieses Pack herumtreibt? Im schlechtesten Fall wohl eher direkt zu den Killern, die sie seit Neuestem ganz oben auf der Abschussliste hatten, weil sie dummerweise dabei war, als einer ihrer Kollegen umgelegt wurde. Nein, weglaufen oder die Heldin spielen waren keine wirklichen Optionen für sie.
Tanya war nicht dumm. Wenn Flucht keine Option war, gab es nur eine weitere Möglichkeit. Sie musste sich mit ihrer Situation arrangieren. Überraschenderweise fiel ihr das leichter als erwartet. Gut, sie war eine Gefangene. Auf der anderen Seite – solange Lee um sie herum war, war sie so sicher wie in Abrahams Schoß.
Zumal sie in sie verknallt war. Tanya hatte ein
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