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Die Fährte der Toten

Die Fährte der Toten

Titel: Die Fährte der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael White
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zuwendend. Sie hat ihre langen rabenschwarzen Haare nach vorne gezogen und streift gedankenverloren darüber, und Tanya sieht die großen Engelsflügel, die über Lees Schulterblätter und Rücken tätowiert worden sind und die nur notdürftig die Narben verdecken. Ihre Gedanken machen sich wieder selbstständig, und ein Bild manifestiert sich in ihrem Kopf. Eine mythische Figur, vielleicht irgendwas aus der Bibel, mit der ihre Eltern sie immer genervt haben, jeden Sonntag. Tanya versucht sich zu erinnern, und dann fällt es ihr plötzlich ein. Lee ist wie ein Sukkubus. So eine Art Dämon, der Menschen beim Sex die Lebenskraft entzieht.
     
    'Ich bin kein solches Wesen. Ich weiß auch nicht, ob sie existieren. Ich kannte einmal jemanden - sie hätte dir diese Frage wohl beantworten können. Wenn sie es denn gewollt hätte. Was nicht sicher ist.'
     
    Langsam dreht sich Lee zu Tanya um und lächelt sie an.
     
    'Gefällt dir mein Kimono? Er ist aus echter Seide. Eine Maßanfertigung. Wenn du möchtest, kannst du auch einen bekommen. Schließlich ist das hier ja Dein neues Zuhause. Du möchtest ja wahrscheinlich nicht immer nackt herumlaufen. Auch wenn mir das sicherlich gefallen würde. Was dich angeht, ich nehme an, dir hat die letzte Stunde gut gefallen. Mir auch. Spricht für dich, und ich weiß, wovon ich rede.'
     
    Tanya spürt, wie sie rot wird, und Lee grinst.
     
    'Na komm, vorhin warst du auch nicht so prüde. Freu dich lieber, macht vieles für dich einfacher. Und jetzt komm her.'
 
    Sie streckt ihre Hand aus und winkt Tanya zu, und nachdem Tanya sie zögernd ergriffen hat, zieht Lee sie sacht zu sich heran legt einen Arm um ihre Hüfte und streicht mit der rechten eine widerspenstige Haarsträhne aus Tanyas Gesicht. Fast erwartet Tanya, dass Lee sie küssen und sie gleich hier auf der Terrasse ausziehen wird, aber Lee scheint sich zu beherrschen. Nur ihre Zungenspitze streift kurz über Tanyas Lippen, dann löst sich Lees Arm und ihre Hand streicht kurz über Tanyas Bauch, bevor sie sich von ihr löst. Lees Blick schweift davon in die Dunkelheit der Wälder, die im Hintergrund in die Nacht ragen, bevor sie wieder Tanya fokussiert.
     
    'Ich nehme an, dass du eine ganze Menge Fragen an mich hast. Dass du mächtig neugierig bist. Und dass du tief in deinem Innern immer noch damit kokettierst, einfach wegzulaufen und all das hier zu vergessen. Ein gruseliger Abend mit einem tollen Ende, aber nun muss ich leider los. Nicht wahr, Kleines?'
     
    Tanya nickt fast wie in Trance. Lees Augen. Die Augen eines Raubtiers. So wundervoll. Fast hat sie das Gefühl, in ihnen zu versinken. Ihr Instinkt schlägt an, will sie zur Flucht zwingen, aber sie kann den Blick nicht abwenden.
     
    'Nun, da muss ich dich enttäuschen. Du wirst hier bei mir bleiben, und du wirst tun, was ich dir sage. Wenn du das machst – wirst du weiter leben, und es wird dir an nichts fehlen. Wenn nicht – na, lassen wir das. Haben wir uns verstanden?'
     
    Tanya nickt. Lee betrachtet Tanya mit einem schon fast nachsichtig zu nennenden Blick.
     
    ‘Du hast dich für diesen Weg entschieden, als du nicht gelaufen bist. Ich habe entschieden, dich nicht zu töten, obwohl es klüger und vielleicht für uns beide besser gewesen wäre. Deshalb werde ich auf dich aufpassen. Aufpassen müssen. Nicht zuletzt wegen dem Teil von mir, mit dem nicht zu spaßen ist und der begonnen hat, sich für dich zu interessieren.'
     
    Tanya nickt wieder, und Lee spürt ihre Verunsicherung und ihre Angst. Sie kann sie verstehen, so gut verstehen. Könnte sie noch durchatmen, sie würde es jetzt tun.
     
    'Ich verspreche dir eines - ich werde dir niemals ohne Grund wehtun.'
     
    Lee streicht Tanya mit zwei Fingern sanft über die Wange. Die junge Frau, die dort vor ihr steht, mit schreckgeweiteten Augen, ist ein Mensch. So wie Daryll ein Mensch war.
     
    ‘Du verstehst es nicht...doch du wirst es verstehen...schon sehr bald...glaub mir...'
     
    Lee öffnet noch einmal den Mund, als wenn sie noch etwas sagen wollte und schüttelt dann unmerklich den Kopf.
     
    'Wir reden morgen weiter. Denk dran, mach keinen Unsinn, dann wird alles gut.'
     
    'Ok', sagt Tanya.
     
    Lee lächelt ihr noch einmal zu, eine Geste, die alles und nichts bedeuten kann, bevor sie lautlos durch die Tür gleitet und Tanya allein lässt. Für den Bruchteil einer Sekunde scheint es Tanya, als schwebe ein engelsgleicher Halo um Lee, und sie hat das Gefühl, als würde sie gerade aus einem Traum

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