Die Fährte der Toten
Gedanken, Gefühle – alles verweht im Wind der Zeit.
Das Volk meines Vaters war schon immer Teil dieses Landes. Und meine Mutter ist es mit der Zeit geworden. Sie haben dieses Land geliebt, alle beide. Ich glaube manchmal, dass sie um mich herum sind, zusammen mit meinem Bruder, in den Bäumen, den Steinen, dem Wasser, der Erde...in allem, was dieses Land ausmacht.'
Lee stößt ein verächtliches Lachen aus.
'Meine Eltern glaubten an die Harmonie der Dinge. Die Einheit zwischen Mensch und Natur. Das Gleichgewicht zwischen Seele und Körper. So sollte die Welt sein. Wie du inzwischen erfahren hast, ist sie leider manchmal ganz anders. Voll von Hass und Leid, gepeinigt von Dämonen in Menschengestalt, seien sie nun tot oder lebendig.'
Lee sieht Tanya nun in die Augen, während sie weiterspricht.
'Weißt du, als ich klein war, hat mir meine Mutter einmal eine gruselige Geschichte erzählt. Über Wesen, die Teil des Landes geworden sind, aber auf so ganz andere Weise, als meine Eltern es waren. Mein Vater und meine Mutter, sie waren ihm auf natürliche Weise verbunden. Sie und das Land, sie waren eins. Sie nahmen sich nichts mit Gewalt. Sie waren zufrieden mit dem, was das Land ihnen zu geben bereit war.
Die Wesen, von denen sie erzählten, waren es nicht. Diese Ungeheuer hatten ihre Klauen tief in das Land hinein gegraben. Sie zerrissen und vergewaltigten es, indem sie in der Erde mit Gewalt nach Wissen und Erkenntnis suchten. Und als ihre Gier schließlich befriedigt war, waren sie nicht mehr wie Menschen. Sie waren verwandelt. Sie waren ein Teil des Landes geworden, und sie hatten einen Preis entrichten müssen. Niemand, der nach den verborgenen Schätzen der Erde gräbt, zieht seine Klauen jemals unbefleckt zurück.'
Lee macht eine lange Pause, und Tanya wagt es nicht, sie zu unterbrechen, auch wenn ihr tausend Fragen auf der Zunge liegen. Lee fährt mit tonloser, spröder Stimme fort.
'Ich weiß nicht, ob Frank zu diesen uralten Wesen gehört. Ich glaube eher, dass er nur ein Abkömmling von ihnen ist, wenn auch ein mächtiger. So wie ich wohl sein Kind bin. Er war auf der Suche nach jemandem wie mir. Er wollte mich, weil ich die Voraussetzungen mitbrachte, um erfolgreich zu sein. Um es zu überstehen.'
Sie schüttelt den Kopf.
'Manchmal denke ich, dass ich besser liegen geblieben wäre. Damals, als ich blutend auf der Straße lag, mit zwei Kugeln im Rücken. Dann hätte mich der Tod gefunden, so wie es mir vorherbestimmt war. Doch jemand anderes fand mich und enthielt mich dem Tod vor. Er hat einen hohen Preis dafür bezahlt. Wie so viele andere auch.'
'Was ist mit ihm passiert.'
Lee schnippt den Rest ihrer Zigarette in die Dunkelheit.
'Sagen wir einfach, dass ich ihm kein Glück gebracht habe. Es ist immer das Gleiche - wenn ich mal jemanden mag, ist er nicht mehr lange da.'
Wenn du jemanden nicht magst, ist der auch nicht mehr lange da, schießt es Tanya durch den Kopf. Aber den Spruch behält sie besser für sich. Sie schweigt, und Lee scheint ihr Unwohlsein zu bemerken, denn sie wechselt abrupt das Thema.
'Für diese Nacht ist es genug mit den alten Geschichten aus der Vergangenheit.'
Lee öffnet ihre Lippen, und Tanya fühlt eine Gänsehaut in ihrem Nacken.
'Wenn ich nicht aufpasse, ist die Nacht noch rum, und wir haben uns gar nicht amüsiert.'
Tanya glaubt einen Blick auf Lees Fangzähne zu erhaschen und will instinktiv zurückweichen, doch Lee legt nur sanft einen Finger auf ihre Lippen.
'Ssshhh...keine Angst. Ich habe dir gesagt, dass es Himmel und Hölle gibt. Beide liegen sehr nah beieinander. Für diese Nacht wird es der Himmel sein. Das verspreche ich dir.'
Sie hat mich verhext, denkt Tanya. Oder du bist dabei, dich in sie zu verknallen. Eine seltsame Ruhe überkommt Tanya. Sie schließt die Augen und spürt einen wohligen Schauer, als Lees Fänge über ihre Haut gleiten. Ein kurzer Schmerz, dann explodiert eine rote Sonne hinter ihren Augenlidern. Das Letzte, was sie bewusst denkt, bevor sie sich fallen lässt ist 'Himmel oder Hölle, was immer du willst.'
***
Tanya ist eingeschlafen. Kein Wunder, denkt Lee. Sie ist ein Mensch, und Menschen schlafen in der Nacht. Lee ist ihr fast dankbar. So angenehm es ist, ihrem Verlangen freien Lauf lassen zu können – jetzt will sie allein sein. Mit ihren Erinnerungen, ihren Dämonen, die Tanya unwissentlich hervorgerufen hat und die sie aufwühlen,
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