Die Fährte der Toten
zu hören, aber die nächtliche Fauna ist verstummt. Du bist nicht mehr allein, denkt sie. Die Lichter des Pools erhellen das Wasser, aber jenseits des Beckenrandes herrscht eine Dunkelheit, die auch Lee mit ihren geschärften Sinnen kaum durchdringen kann. Wenn sich etwas jenseits dieser Barriere verbergen will, wird ihm dies auch gelingen. Langsam, mit fließenden, ruhigen Bewegung nähert sich Lee dem Rand des Beckens und gleitet dann lautlos aus dem Wasser. Die Tropfen perlen von ihrer nackten Haut ab und glitzern im Mondlicht. Lee huscht wie eine Raubkatze auf allen Vieren in Richtung der Schatten der Wälder, und konzentriert sich, doch was immer dort draußen auf sie lauert, entzieht sich ihren Blicken. Sie zieht die Luft durch ihre Nasenflügel ein. Der Geruch von feuchter Erde hängt in der Luft. Und da ist noch etwas. Eine kaum wahrnehmbare Witterung. Mit unmenschlich schnellen Bewegungen erreicht Lee die Mauer, die das Grundstück umschließt und überwindet das Hindernis mühelos mit katzenhafter Geschmeidigkeit.
Auf der anderen Seite umfängt sie die Dunkelheit des Waldes wie ein Mantel. Instinktiv nimmt sie die Witterung wieder auf, während eine immer leiser werdende Stimme in ihrem Kopf verhallt, die sie vergeblich darauf hinzuweisen versucht, dass sie verflucht noch mal nackt durch den Wald streunen will.
Sie zieht wieder die Luft ein. Da – dieses unvergleichliche Aroma. Hier ist Blut vergossen worden. Nur wo? Lautlos bewegt sie sich tiefer in das Unterholz hinein, von Zeit zu Zeit in die Hocke gehend und den weichen Boden absuchend, bis sie schließlich fündig wird. Ein Fußabdruck. Von einem Kind. Es ist hier, denkt sie. So wie in der Nacht, als sie Franks Monster in Stücke gerissen hat. Was willst du von mir, denkt sie. Zeig dich mir. Doch nichts geschieht. Der Blutgeruch wird dagegen etwas stärker. Es ist nur ein Hauch, doch für Lee ist er wie ein unsichtbares Band, an dem sie sich entlanghangeln kann.
Sie kommt an eine kleine Lichtung, als wie aus dem Nichts das Kind vor ihr erscheint, gekleidet in ein strahlend weißes Kleidchen. Lee spannt ihre Muskeln an und wendet sich an das Kind.
'Wer bist du? Warum bist du hier? Was willst du von mir?'
Lee Stimme ist ein Knurren, doch das Kind scheint sich nicht vor ihr zu fürchten. Vielmehr betrachtet es Lee aus uralten Augen neugierig mit leicht zur Seite gelegtem Kopf und lacht dann lautlos.
'Hast du deine Stimme verloren? Los, antworte mir.'
Das Kind lächelt sie weiterhin nur an, und Lee muss sich anstrengen, nicht einfach ihre Vorsicht fahren zu lassen. Das Kind legt nun einen Finger auf seine Lippen und öffnet dann den mit messerscharfen Zähnen gespickten Mund, als wenn es lachen wollte. Lee will gerade aufbrausen – als sie plötzlich einen Anflug von Übelkeit in sich aufsteigen fühlt. Sie hat viel gesehen in ihrer Zeit mit Gettys. Und viele Dinge getan, die sie gerne vergessen würde. Aber für alles hat es Grenzen gegeben. Selbst für Wesen ihrer Art. Also wer zur Hölle tut so etwas?
Wer schneidet einem Kind die Zunge heraus? Und verwandelt es in – so etwas? Ihre Wut ist wie weggeblasen, und sie muss sich beherrschen, das Kind nicht in den Arm zu nehmen, es zu trösten, ihm zu sagen, dass alles gut wird.
Das Kind lacht wieder lautlos und verschränkt die Ärmchen hinter dem Rücken. Dann neigt es leicht den Kopf zur Seite, betrachtet Lee mit einem undeutbaren Blick und zeigt in Richtung einer riesigen Tanne am Rande der Lichtung. Lee wendet ihren Blick – und ist für einen Moment erneut wie vor den Kopf geschlagen.
Ein Rabe ist an den Stamm genagelt, kopfüber gekreuzigt, die Augen herausgerissen, die Innereien kunstvoll arrangiert.
'Was soll das', sagt Lee, nur um sich im gleichen Moment die Antwort selbst zu geben. Eine Warnung. Nur wovor? Lee schüttelt den Kopf und öffnet ihren Mund um das Kind noch etwas fragen, dem Kind hinterher rufen, aber es ist schon längst zwischen den Bäumen verschwunden, ganz so, als hätte es der Erdboden verschluckt.
Von einem Moment auf den anderen scheint die Fauna der Nacht wieder zu erwachen. Das Kind ist fort - Lee weiß es, so sicher, wie sie vorher instinktiv gespürt hat, dass es dort draußen auf sie gewartet hat. Heute Nacht wird sie keine Antworten mehr auf ihre Fragen bekommen, und so macht sie sich frustriert auf den Heimweg.
***
Nachdem sie sich unter der Dusche von ihrem Ausflug in den Wald gereinigt hat, zieht
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