Die Fährte
Kopf. »Ich weiß nicht, wer hier der Dümmere ist. Sie, der Sie sich von Ihrem Freund verarschen lassen, oder Ihr Freund, der glaubt, sich vor mir verstecken zu können, nachdem er mir das Geld gestohlen hat.« Er seufzte schwer. »Oder ich, der ich Ihnen Geld gebe.«
Harry hatte geglaubt, er würde sich freuen oder wäre wenigstens erleichtert. Doch das Einzige, was er spürte, war, dass sich der Knoten in seinem Bauch noch fester zuzog. »Also, was müssen Sie wissen?«
»Nur den Namen Ihres Freundes und in welcher Bank in Ägypten er das Geld abholen will.«
»Ich sage es Ihnen in einer Stunde.« Harry stand auf.
Raskol rieb sich die Handgelenke, als seien ihm gerade die Handschellen abgenommen worden. »Ich hoffe, Sie glauben nicht, mich zu verstehen, Spiuni.« Er sagte das leise, ohne aufzublicken.
Harry hielt inne. »Wie meinen Sie das?«
»Ich bin Zigeuner. Meine Welt kann eine auf den Kopf gestellte Welt sein. Wissen Sie, was Gott auf Romani heißt?«
»Nein.«
»Teufel. Seltsam, nicht wahr? Wenn man schon seine Seele verkaufen muss, ist es gut zu wissen, an wen man sie verkauft, Spiuni.«
Halvorsen meinte, Harry sehe erschöpft aus.
»Definiere erschöpft«, bat Harry und legte den Kopf nach hinten. »Ach, nein, lass es.«
Als Halvorsen fragte, ob alles in Ordnung sei, und Harry ihn aufforderte, »in Ordnung« zu definieren, seufzte Halvorsen und verließ das Büro, um es bei Eimer zu versuchen.
Harry wählte die Nummer, die Rakel ihm gegeben hatte, bekam aber wieder nur die russische Stimme, die ihm, wie er annahm, mitteilte, dass er unter dieser Nummer generell neben der Spur war. Dann rief er Bjarne Møller an und versuchte, seinem Chef den Eindruck zu vermitteln, dass er auf der richtigen Spur war. Møller hörte sich nicht überzeugt an.
»Ich brauche gute Neuigkeiten, Harry. Erzähl mir nicht, womit du deine Zeit vergeudet hast.«
Beate kam herein und sagte ihm, dass sie sich das Video noch zehnmal angesehen habe und jetzt keinen Zweifel mehr habe, dass sich der Exekutor und Stine Grette kannten. »Ich glaube, das Letzte, was er ihr sagt, ist, dass sie sterben muss. Man kann das an ihrem Blick erkennen. Trotzig und doch voller Angst, ähnlich wie in den Kriegsfilmen die Widerstandskämpfer vor ihrer Hinrichtung.«
Pause.
»Hallo?« Sie wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Erschöpft?«
Er rief Aune an.
»Hier ist Harry. Wie reagieren Menschen, wenn sie hingerichtet werden sollen?«
Aune gluckste. »Sie werden sehr konzentriert«, sagte er. »Auf die Zeit.«
»Und Angst? Panik?«
»Das kommt darauf an. Von was für einer Hinrichtung sprechen wir?«
»Einer öffentlichen Hinrichtung. In einer Bankfiliale.«
»Verstehe, warte, ich ruf dich in zwei Minuten zurück.«
Harry sah beim Warten auf die Uhr. Es dauerte einhundertundzehn Sekunden.
»Der Prozess des Sterbens ist ähnlich wie die Geburt ein sehr intimer Prozess«, sagte Aune. »Der Grund dafür, dass sich Menschen in solchen Situationen instinktiv verstecken wollen, liegt nicht bloß daran, dass sie sich spürbar verwundbar fühlen. In Anwesenheit anderer zu sterben, wie bei einer öffentlichen Hinrichtung, ist eine doppelte Strafe, weil dadurch auf grausamste Weise die Keuschheit des Verurteilten zerstört wird. Das war einer der Gründe, weshalb man der Ansicht war, dass öffentliche Hinrichtungen eine bessere kriminelle Präventivwirkung hätten als Exekutionen in der Abgeschiedenheit einer Zelle. Aber man nahm gewisse Rücksichten, so trug der Henker zum Beispiel eine Maske. Das war nicht, wie viele glauben, um die Identität des Henkers zu verschleiern, denn beinahe alle wussten doch, dass es sich dabei um den lokalen Schlachter oder Riemenschläger handelte. Er trug die Maske aus Rücksicht auf den Verurteilten, damit er im Augenblick des Todes keinen Fremden in seiner unmittelbaren Nähe ertragen musste.«
»Hm. Der Bankräuber trug auch eine Maske.«
»Der Gebrauch von Masken ist ein sehr kleines Spezialgebiet für uns Psychologen. So kann die moderne Auffassung, dass uns der Gebrauch von Masken unfrei macht, zum Beispiel auf den Kopf gestellt werden. Masken können Menschen in einer Weise entpersonifizieren, die sie freier macht. Warum, glaubst du, waren die Maskenbälle in der viktorianischen Zeit so beliebt? Oder warum trägt man Masken bei manchen sexuellen Spielchen? Ein Bankräuber hingegen hat natürlich etwas prosaischere Gründe, eine Maske zu
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