Die Fährte
seine Stimme gekommen.
»Ich habe Vigdis versprochen, dass das ein einmaliger Seitensprung war, eine idiotische Affäre, in die sich Männer meines Alters ab und zu verstricken, wenn sie eine junge Frau treffen, die sie daran erinnert, was sie einmal waren. Jung, stark und unabhängig. Aber das ist man ja nicht mehr. Am wenigsten unabhängig. Wenn Sie Kinder bekommen, werden Sie verstehen …«
Seine Stimme versagte und er atmete schwer. Begrub die Hände in den Taschen seines Mantels und begann erneut.
»Annas Liebe war so unbändig stark. Das war fast unnormal. Sie konnte nie richtig loslassen. Ich musste mich buchstäblich losreißen, sie hat eine meiner Jacken zerrissen, als ich versuchte, durch ihre Tür zu kommen. Ich glaube, Sie verstehen, was ich meine, sie hat mir einmal erzählt, wie es war, als Sie sie verlassen haben. Dass sie fast zu Grunde gegangen wäre.«
Harry war zu verblüfft, um zu antworten.
»Aber ich hatte wohl Mitleid mit ihr«, fuhr Albu fort. »Sonst hätte ich gewiss nicht eingewilligt, sie noch einmal zu treffen. Ich hatte ihr klar zu verstehen gegeben, dass zwischen uns Schluss war, doch sie sagte, sie wolle mir nur ein paar Sachen zurückgeben. Und ich konnte ja nicht wissen, dass Sie auftauchen und daraus eine große Sache machen würden. Dass Sie es so aussehen lassen würden, dass wir … dort wieder angefangen hätten, wo wir aufgehört hatten.« Er beugte den Kopf nach vorn. »Vigdis glaubt mir nicht. Sie sagt, sie könne mir nie mehr glauben. Nicht mal mehr ein einziges Mal.«
Er hob sein Gesicht und Harry sah die Verzweiflung in seinen Augen. »Sie haben mir das Einzige genommen, was ich hatte, Hole. Meine Kinder sind das Einzige, was ich hatte. Ich weiß nicht, ob ich sie zurückbekommen kann.« Sein Gesicht verzog sich voller Schmerz.
Harry dachte an den Schnellkochtopf. Jetzt musste es gleich passieren.
»Die einzige Chance, die ich habe, ist, dass Sie … dass Sie nicht …«
Harry reagierte instinktiv, als sich Albus rechte Hand in der Manteltasche bewegte. Er trat aus und traf Albu an der Seite des Knies, so dass er auf dem Bürgersteig in die Knie sackte. Er schwang den Unterarm vor sein Gesicht, als der Rottweiler noch in der gleichen Sekunde angriff, hörte das Geräusch von zerreißendem Stoff und spürte, wie sich die Zähne in sein Fleisch gruben. Er hoffte, er würde sich festbeißen, aber das schlaue Mistvieh ließ wieder von ihm ab. Harry trat in Richtung des schwarzen, nackten Muskelbündels, verfehlte aber sein Ziel. Er hörte die Krallen auf dem Asphalt, als der Hund absprang, und sah den aufgerissenen Rachen auf sich zukommen. Jemand hatte ihm erzählt, dass Rottweiler schon im Alter von drei Wochen wissen, dass es am effektivsten ist, ihren Opfern die Kehle aufzureißen, und jetzt flog die fünfzig Kilo schwere Muskelmaschine auf ihn zu. Er bekam die Arme nicht mehr hoch, nutzte aber den Schwung, den er durch den Tritt noch hatte, um sich herumzuschwingen, weshalb sich die Kiefer des Hundes nicht um seine Kehle, sondern um seinen Nacken schlossen, ohne dass Harrys Probleme damit aber gelöst gewesen wären. Er griff hinter sich, bekam Unter- und Oberkiefer mit je einer Hand zu fassen und zog mit all seiner Kraft. Doch der Biss lockerte sich nicht, stattdessen drangen die Zähne nur noch tiefer in seinen Nacken. Die Sehnen und Muskeln im Kiefer des Hundes schienen aus Stahl zu sein. Harry taumelte zurück, warf sich nach hinten an die Wand und hörte die Rippen im Körper des Hundes knacken. Doch die Kiefer rührten sich nicht. Er spürte die Panik kommen. Er hatte vom Festbeißen gehört, von Hyänen, die noch lange, nachdem sie von der Löwin totgebissen worden waren, an der Kehle des Tieres festhingen. Er spürte das Blut, das warm an der Innenseite seines T-Shirts herabrann, und bemerkte, dass er in die Knie gegangen war. Hatte er bereits das Gefühl verloren? Wohin waren all die Menschen verschwunden? Die Sofies Gate war zwar eine stille Straße, doch noch nie war sie Harry so menschenleer vorgekommen wie gerade jetzt. Ihm wurde bewusst, dass sich alles, was bisher geschehen war, in vollkommener Stille zugetragen hatte, kein Schreien, kein Bellen, nur das Geräusch von Fleisch auf Fleisch, reißendem Fleisch. Er versuchte zu schreien, bekam aber nicht einen Laut über die Lippen. Sein Gesichtsfeld begann sich einzuengen, und er begriff, dass seine Pulsader eingeklemmt sein musste und er einen Tunnelblick bekam, weil sein Hirn nicht mit genug Blut
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