Die Fährte
Schlafzimmer war benutzt worden. Auf dem Nachtschränkchen lag der »Playboy«.
In der Küche rauschte es leise aus einem kleinen Radio, das schwach den Sender P4 empfing. Harry machte es aus. Auf dem Küchentisch lag ein aufgetautes Entrecote und ein noch in Plastik eingewickelter Brokkoli. Harry nahm das Entrecote und trat in den Windfang. Es kratzte an der Außentür und Harry öffnete. Ein paar braune Hundeaugen starrten zu ihm hoch. Oder besser gesagt zum Entrecote, das, kaum war es auf der Treppe gelandet, in Stücke gerissen wurde.
Harry beobachtete den gierigen Hund, während er darüber nachdachte, was er tun sollte. Wenn er denn etwas tun konnte. Arne Albu las nicht William Shakespeare, darin war er sich sicher.
Als auch die letzte Faser des Fleischstückes verschwunden war, begann Gregor mit neuer Kraft in Richtung Weg zu bellen. Harry trat ans Geländer, löste die Kette des Hundes und konnte sich nur mit Mühe auf dem nassen Boden auf den Beinen halten, als Gregor sich losreißen wollte. Der Hund zog ihn hinunter zum Weg, überquerte diesen und hastete dann die steile Böschung hinunter, an deren Ende sich schwarze Wellen hell im Licht des Halbmondes brachen. Sie wateten durch hohes, nasses Gras, das sich an Harrys Beine klebte, als wolle es ihn festhalten. Doch erst als der Kies unter den Doc-Martens-Stiefeln knirschte, blieb Gregor stehen. Der kurze Schwanzstummel wies senkrecht nach oben. Sie standen am Strand. Es war Flut und die Wellen erreichten beinahe das steife Gras. Das Wasser schäumte, und es zischte, als sei Kohlensäure in dem Schaum, der auf dem Sand zurückblieb, wenn sich das Wasser zurückzog. Gregor begann wieder zu bellen.
»Ist er von hier aus mit einem Boot weiter?«, fragte Harry, sich halb an Gregor wendend, halb an sich selbst. »Alleine oder in Begleitung?«
Er bekam von keinem der beiden eine Antwort. Eindeutig war jedoch, dass die Spuren hier endeten. Doch als Harry an der Leine zog, wollte sich der große Rottweiler nicht bewegen. Deshalb schaltete Harry seine Maglite-Taschenlampe an und leuchtete über das Wasser. Er sah nur weiße Reihen von Wellen, die sich wie Streifen von Kokain über einen schwarzen Spiegel zogen. Es war anscheinend ein flach abfallender Strand. Harry zog wieder an der Leine, doch da begann Gregor mit den Pfoten im Sand zu graben und verzweifelt zu heulen.
Harry seufzte, machte die Lampe aus und ging wieder zurück zur Hütte. In der Küche kochte er sich eine Tasse Kaffee und lauschte dem fernen Bellen. Nachdem er die Tasse gespült hatte, ging er wieder zum Strand hinunter und fand eine windgeschützte Senke zwischen den Ufersteinen, wo er sich hinhocken konnte. Er zündete sich eine Zigarette an und versuchte nachzudenken. Dann schlug er den Mantel um sich und schloss die Augen.
Eines Nachts, als sie in ihrem Bett gelegen hatten, hatte Anna etwas gesagt. Es war vermutlich gegen Ende der sechs Wochen – und er musste nüchterner als sonst gewesen sein, weil er sich daran erinnerte. Sie hatte gesagt, dass ihr Bett ein Schiff sei und sie und Harry zwei Schiffbrüchige, einsame Geschöpfe, die auf dem Meer herumtrieben und eine Todesangst davor hatten, irgendwo Land zu erblicken. War es das, was geschehen war, hatten sie Land gesichtet? In seiner Erinnerung war das nicht so, ihm kam es eher so vor, als hätte er abgemustert, als er von Bord ging. Aber vielleicht trog ihn seine Erinnerung.
Er schloss die Augen und versuchte, sich ihr Bild ins Gedächtnis zu rufen. Nicht aus der Zeit, als sie Schiffbrüchige gewesen waren, sondern von ihrer letzten Begegnung. Sie hatten gemeinsam gegessen. Allem Anschein nach. Sie hatte ihm eingeschenkt – Wein? Hatte er getrunken? Anscheinend. Sie hatte noch einmal eingeschenkt. Er hatte die Kontrolle verloren. Sich selbst nachgeschenkt. Sie hatte über ihn gelacht. Ihn geküsst. Für ihn getanzt. Ihm dieselben kleinen Sachen ins Ohr geflüstert wie früher. Dann waren sie ins Bett gefallen und hatten die Leinen gelöst. War es wirklich so leicht für sie gewesen? Und für ihn?
Nein, so konnte es nicht gewesen sein.
Aber Harry wusste es nicht, oder doch? Er konnte nicht mit Sicherheit ausschließen, mit einem seligen Lächeln auf den Lippen in einem Bett in der Sorgenfrigata mit ihr geschlafen zu haben, bloß weil er sie wieder getroffen hatte, während Rakel, aus Angst, ihren Sohn zu verlieren, schlaflos die Decke eines Moskauer Hotelzimmers anstarrte.
Harry kauerte sich zusammen. Der raue, kalte Wind
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