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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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blies direkt durch ihn hindurch, als sei er ein Gespenst. Bislang war es ihm gelungen, diese Gedanken zu verdrängen, doch jetzt brachen sie mit Macht über ihn herein: Wenn er nicht wissen konnte, ob er den Menschen, den er über alles liebte, betrügen konnte, wie konnte er dann wissen, was er sonst noch alles getan haben konnte? Aune behauptete, dass der Rausch nur Eigenschaften oder Schwächen verstärke, die ein Mensch ohnehin schon in sich hat. Aber wer wusste schon, was er in sich hatte? Menschen sind keine Roboter und die Chemie des Gehirns ändert sich mit der Zeit. Wer hatte schon so eine lückenlose Inventarliste, und auf welche Ideen konnte man – die richtigen Umstände und die falschen Medikamente vorausgesetzt – nicht doch kommen?
    Harry zitterte und fluchte. Er wusste es jetzt. Wusste, warum er Arne Albu finden und ein Geständnis aus ihm herausbekommen musste, ehe ihn andere zum Schweigen brachten. Nicht weil er den Polizisten im Blut hatte oder weil ihm der Rechtsstaat ein persönliches Anliegen war. Weil er es wissen musste. Und Arne Albu war der Einzige, der ihm das sagen konnte.
    Harry kniff die Augen zusammen, während das leise Pfeifen des Windes auf dem Granit den monotonen Rhythmus der Wellen übertönte.
    Als er die Augen wieder öffnete, war es nicht mehr so dunkel. Der Wind hatte die Wolken weggefegt und matte Sterne blinkten über ihm. Der Mond hatte sich bewegt. Harry sah auf die Uhr. Er hatte fast eine Stunde dort gesessen. Gregor bellte frenetisch über das Wasser. Steif rappelte er sich auf und stolperte zum Hund. Die Gravitationskraft des Mondes hatte ihren Wirkungskreis verlegt und der Wasserstand war gesunken. Harry stapfte über den Ansatz eines langen Sandstrandes nach unten.
    »Komm, Gregor, hier finden wir nichts.«
    Der Köter knurrte, als er die Leine ergriff, und Harry wich automatisch einen Schritt zurück. Er blinzelte über das Wasser. Das Mondlicht blinkte auf dem Schwarz, doch er erblickte dort auch etwas, was er nicht gesehen hatte, als das Wasser höher stand. Es sah aus wie die Spitze zweier Vertäuungspfähle, die knapp über die Wasserfläche reichten. Harry ging bis zum Rand der Brandung hinunter und schaltete die Taschenlampe an.
    »Mein Gott«, flüsterte er.
    Gregor sprang ins Wasser und er watete hinterher. Es waren zehn Meter bis dort, doch trotzdem reichte Harry das Wasser nur etwa bis zum Knie. Er starrte auf ein paar Schuhe hinab. Handgenäht. Italienisch. Harry richtete den Strahl des Lichts etwas weiter vor sich ins Wasser, wo das Licht von blauweißen, nackten Beinen reflektiert wurde, die wie bleiche Grabsteine ins Meer ragten.
    Harrys Schrei wurde vom Wind davongetragen und ertrank augenblicklich im Rauschen der Wellen. Doch die Lampe, die er fortwarf, und die vom Wasser geschluckt wurde, blieb auf dem Sandboden liegen und leuchtete fast einen ganzen Tag. Und als der kleine Junge, der sie im nächsten Sommer fand, zu seinem Vater gerannt kam, hatte das Salzwasser den schwarzen Belag weggeätzt, und keiner von beiden brachte eine Mini-Maglite mit dem grotesken Leichenfund vom letzten Jahr in Verbindung, über den in den Zeitungen berichtet worden war, doch der seit dem Erscheinen der ersten warmen Sonnenstrahlen des neuen Sommers so unendlich weit entfernt schien.
     

 
     
     

    Teil 5
     

 
     
     

    Kapitel 32 – David Hasselhoff
     
    Wie eine weiße Säule fiel das Morgenlicht durch einen Riss in der Wolkendecke auf den Fjord. Tom Waaler nannte es das »Jesuslicht«. Er hatte einige solcher Bilder zu Hause an den Wänden hängen. Er stieg über das breite Plastikband, das den Tatort absperrte. Es lag in seiner Natur, solche Hindernisse zu überspringen, statt sich darunter hindurch zu bemühen, meinten diejenigen, die ihn zu kennen glaubten. Mit Punkt eins hatten sie Recht, doch mit Punkt zwei nicht: Tom Waaler wusste niemanden, der ihn wirklich kannte. Und er legte alles daran, dass das auch so blieb.
    Er hob eine kleine Digitalkamera an seine Police-Sonnenbrille mit den stahlblauen Gläsern, von der er noch ein gutes Dutzend zu Hause hatte. Ein Geschenk von einem zufriedenen Kunden. Die Kamera ebenso. Der Sucher fing das Loch im Boden und die Leiche daneben ein. Sie trug schwarze Hosen und ein Hemd, das einmal weiß gewesen sein musste, jetzt aber von Lehm und Sand ganz braun war.
    »Ein neues Bild für die private Sammlung?« Das war Weber.
    »Das ist wirklich neu«, sagte Waaler, ohne aufzublicken. »Ich mag fantasievolle Mörder. Habt

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