Die Fährte
einem gelben Reihenhaus im Viertel Disengrenda. Er drückte auf die Klingel und sah sich um. Disengrenda bestand aus vier langen Reihenhäusern im Herzen eines großen, flachen Feldes, umgeben von größeren Wohnblocks. Harry musste unwillkürlich an eine Siedlung in der Prärie denken, in der sich die Menschen mit einem Ringwall gegen Indianerangriffe geschützt hatten. Und vielleicht war es ja so. Die Reihenhäuser waren in den sechziger Jahren für die stetig wachsende Mittelklasse gebaut worden. Vielleicht hatte die bereits schwindende Urbevölkerung der Arbeiter in den Blocks im Disenvei und im Travervei bereits damals erkannt, dass dies die neuen Herren waren, die die alleinige Herrschaft über das noch junge Land übernehmen würden.
»Scheint keiner da zu sein«, sagte Harry und klingelte noch einmal. »Bist du sicher, dass er auch mitbekommen hat, dass wir heute Nachmittag kommen wollten?«
»Nein.«
»Nein?« Harry drehte sich um und blickte auf Beate hinab, die schlotternd unter dem Regenschirm stand. Sie trug ein Kleid und hochhackige Schuhe. Harry hatte spontan gedacht, dass sie sich wie für ein Kaffeekränzchen herausgeputzt hatte, als sie ihn vor der Gaststätte Schröder aufgelesen hatte.
»Grette hat den Termin zweimal bestätigt, als ich ihn am Telefon hatte«, sagte sie. »Aber er … schien nicht ganz bei sich zu sein.«
Harry beugte sich zur Seite und drückte seine Nase an das Küchenfenster. Es war dunkel im Haus, und das Einzige, was er sehen konnte, war ein weißer Kalender an der Wand mit dem Logo der Nordea-Bank.
»Lass uns zurückfahren«, sagte er.
In diesem Moment öffnete sich mit einem lauten Ruck das Küchenfenster der Nachbarn. »Wollen Sie zu Trond?«
Die Worte waren im breitesten Bergendialekt gesprochen worden. Jedes »r« klang, als würde ein Zug entgleisen. Harry drehte sich um und blickte in ein braunes, faltiges Frauengesicht, das anscheinend gleichzeitig lächeln und todernst aussehen wollte.
»Das wollen wir«, bestätigte Harry.
»Verwandtschaft?«
»Polizei.«
»Ah so«, erwiderte die Frau und ließ das Begräbnisgesicht fallen. »Ich dachte, Sie seien gekommen, um ihm Ihr Beileid zu bekunden. Der Arme ist auf dem Tennisplatz.«
»Auf dem Tennisplatz?«
Sie streckte ihren Arm aus. »Auf dem Feld. Seit vier Uhr steht er da.«
»Aber es ist doch dunkel«, sagte Beate. »Und es regnet.«
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Das ist wohl die Trauer.« Sie rollte das »r« derart, dass Harry an die Pappstreifen denken musste, die sie als Kinder früher in Oppsal an der Fahrradgabel befestigt hatten, damit sie in den Speichen klapperten.
»Du bist doch auch irgendwo im Osten der Stadt aufgewachsen?«, fragte Harry, während er und Beate langsam in die Richtung gingen, die ihnen die Frau gewiesen hatte. »Oder täusche ich mich?«
»Nein«, sagte Beate bloß.
Der Tennisplatz lag mitten auf dem Feld genau zwischen Reihenhäusern und Blocks. Sie hörten das dumpfe Klatschen eines nassen Balls auf der Bespannung eines Tennisschlägers, und hinter dem hohen Netz, das den Platz umgab, erblickten sie eine Gestalt, die in der zunehmenden Dunkelheit Aufschläge übte.
»Hallo!«, rief Harry, als sie am Netz standen, doch der Mann antwortete nicht. Erst jetzt erkannten sie, dass er ein Sakko, Hemd und Schlips trug.
»Trond Grette?«
Ein Ball prallte in eine schwarze Pfütze, sprang wieder hoch, klatschte in das Netz vor ihnen und besprühte sie mit einer feinen Dusche aus Regenwasser, die Beate mit dem Schirm abwehrte.
Beate rüttelte an der Tür. »Er hat sich eingeschlossen«, flüsterte sie.
»Hole und Lønn von der Polizei!«, rief Harry. »Wir hatten uns angemeldet. Könnten Sie … verflucht!« Harry hatte den Ball nicht gesehen, ehe er ins Netz klatschte und nur einen Daumenbreit vor seinem Gesicht in den Maschen hängen blieb. Er wischte sich das Wasser aus den Augen und blickte an sich herab. Er sah aus, als sei er in den rotbraunen Sprühnebel einer Lackiererei gekommen. Harry drehte sich automatisch um, als er den Mann den nächsten Ball hochwerfen sah.
»Trond Grette!« Harrys Ruf wurde von den Wänden der Blocks zurückgeworfen. Sie sahen einen Tennisball vor den Lichtern der Blocks eine Parabel beschreiben, ehe er vom Dunkel verschluckt wurde und irgendwo auf dem Feld landete. Harry drehte sich gerade rechtzeitig wieder zum Tennisplatz um, um den wilden Schrei zu hören und die Gestalt zu erkennen, die aus dem Dunkel auf sie zugestürmt kam. Stahl
Weitere Kostenlose Bücher