Die Fährte
gurrte Rakel. Das Echo war verschwunden.
»Ich spüre, dass mir warm wird im … wie heißt das da?«
»Herz?«
»Nein, das ist etwas unterhalb des Herzen. Nieren? Leber? Milz? Ja, das ist es, mir wird warm um die Milz.«
Harry war sich nicht sicher, ob das, was er am anderen Ende der Leitung hörte, Lachen oder Weinen war. Er drückte die Play-Taste des Anrufbeantworters.
»Ich hoffe, dass wir in vierzehn Tagen wieder zu Hause sind«, sagte Rakel ins Handy, ehe sie vom Anrufbeantworter übertönt wurde.
»Hei, ich bin's noch mal …«
Harry spürte, wie sein Herz einen Sprung machte, und reagierte, ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte. Er drückte die Stopp-Taste. Doch irgendwie schien das Echo der Worte dieser etwas heiseren, eindringlichen Frauenstimme zwischen den Wänden hin und her zu rollen.
»Was war das?«, fragte Rakel.
Harry hielt die Luft an. Ein Gedanke versuchte ihn zu erreichen, bevor er antwortete, aber er kam zu spät. »Nur das Radio.« Er räusperte sich. »Sag mir Bescheid, mit welchem Flugzeug ihr kommt, ich hol euch dann ab.«
»Natürlich tue ich das«, sagte sie etwas überrascht.
Es entstand eine etwas peinliche Pause.
»Du, ich muss jetzt los«, sagte Rakel. »Telefonieren wir heute Abend gegen acht noch mal?«
»Ja, das heißt nein, da kann ich nicht.«
»Oh, ich hoffe, es ist wenigstens mal etwas Angenehmes?«
»Nun«, sagte Harry und holte tief Luft. »Auf jeden Fall gehe ich mit einer Frau weg.«
»Ach nein. Wer ist die Glückliche?«
»Beate Lønn. Eine neue Beamtin im Raubdezernat.«
»Und was ist der Anlass?«
»Ein Gespräch mit dem Ehemann von Stine Grette, das ist die, die bei dem Raub im Bogstadvei erschossen worden ist. Ich habe dir davon erzählt. Und mit dem Filialleiter.«
»Na, dann viel Spaß. Dann telefonieren wir morgen. Oleg will dir aber noch Gute Nacht sagen.«
Harry hörte schnelle, laufende Schritte und dann einen hastigen Atem im Hörer.
Nachdem sie aufgelegt hatten, blieb Harry im Flur stehen und starrte in den Spiegel über dem Telefontischchen. Wenn seine Theorie stimmte, blickte er jetzt in das Gesicht eines tüchtigen Polizeibeamten. Zwei blutunterlaufene Augen auf jeder Seite eines kräftigen Nasenrückens, umgeben von einem feinen Netz blauer Äderchen in einem blassen, knochigen Gesicht mit groben Poren. Die Falten sahen aus wie die Kerben auf einem Balken, der willkürlich mit einem Messer bearbeitet worden war. Wie war es dazu gekommen? Im Spiegel sah er die Wand hinter sich, an der das Bild von dem lächelnden, sonnengebräunten Jungen und dessen Schwester hing. Doch Harry war nicht auf der Suche nach verloren gegangener Schönheit oder Jugend. Denn der Gedanke hatte ihn endlich erreicht. Er suchte in seinen Zügen nach dem Betrügerischen, dem Ausweichenden, dem Feigen, das ihn gerade erst wieder dazu gebracht hatte, eines der Versprechen zu brechen, die er sich selbst gegeben hatte: nämlich Rakel niemals – wie auch immer – zu belügen. Dass ihre Beziehung bei all den Hindernissen, die es ohnehin bereits gab, auf keinen Fall auf Lügen aufbauen durfte. Warum also hatte er es wieder getan? Es stimmte, dass er und Beate Stine Grettes Ehemann treffen sollten, aber warum hatte er nicht erzählt, dass er anschließend Anna treffen wollte? Eine alte Flamme, aber – na und? Sie hatten eine wilde, stürmische Affäre gehabt, die ein paar Spuren hinterlassen hatte, doch keine bleibenden. Sie wollten bloß miteinander reden, einen Kaffee trinken und sich gegenseitig erzählen, wie es ihnen nach dem Ende ihrer Beziehung ergangen war, ehe sie wieder jeder zu sich nach Hause gingen.
Harry drückte die Play-Taste des Anrufbeantworters, um den Rest der Nachricht abzuspielen. Annas Stimme erfüllte den Flur: »… ich freu mich drauf, dich heute Abend im ›M‹ zu sehen. Nur zwei Sachen: Kannst du beim Schlüsseldienst in der Vibes Gate vorbeigehen und mir ein paar Schlüssel mitbringen, die ich da bestellt habe? Die haben bis sieben geöffnet und ich habe deinen Namen als Abholer angegeben. Und kannst du nicht die Jeans anziehen, du weißt schon, die, die ich so gerne mochte?«
Tiefes, heiseres Lachen, und der ganze Raum schien im gleichen Takt zu vibrieren. Sie war die Gleiche geblieben, gar kein Zweifel.
Kapitel 5 – Nemesis
Im Licht der Außenlampe, die über dem Keramikschild mit den Namen von Espen, Stine und Trond Grette hing, zeichnete der Regen helle Spuren in den dunklen Oktoberhimmel. Sie standen vor
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