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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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ich glaube wirklich, dass du das hier mitbekommen solltest.«
    Sie trat widerstrebend einen Schritt näher, blieb dann aber stehen.
    »O.K.«, sagte Tom. »Es war so, dass an diesem Tag im – wann war das, Beate?«
    »Freitag, der dritte Juni, um Viertel vor drei«, flüsterte sie.
    »Juni, ja. Sie hören die Meldung im Funk und die Bank ist gleich nebenan. Sie fahren hin und beziehen draußen mit ihren Waffen Stellung. Der junge Polizist und der erfahrene Kommissar. Sie halten sich ans Lehrbuch und warten auf Verstärkung oder darauf, dass die Täter die Bank verlassen. Es kommt ihnen nicht einmal in den Sinn, in die Bank zu gehen. Bis einer der Täter an der Tür auftaucht, die Waffe am Kopf einer Bankangestellten, und den Namen deines Vaters ruft. Der Täter hat sie draußen bemerkt und Hauptkommissar Lønn erkannt. Er ruft, dass er die Frau nicht verletzen wolle, aber dass er eine Geisel brauche. Und dass es O.K. sei, falls Lønn an ihren Platz treten wolle. Doch dann müsse er die Waffe zu Boden legen und allein für den Austausch in die Bank kommen. Und dein Vater, was tut der? Er denkt nach. Er muss schnell denken. Die Frau hat einen Schock. Daran kann man sterben. Er denkt an seine eigene Frau, deine Mutter. Ein Tag im Juni, Freitag, bald Wochenende. Und die Sonne … schien die Sonne, Beate?«
    Sie nickte.
    »Er fragt sich, wie warm es dort in der Filiale sein wird. Die Belastung. Die Verzweiflung. Dann entschließt er sich. Wozu entschließt er sich? Was tut er, Beate?«
    »Er geht hinein.« Die flüsternde Stimme war tränenerstickt.
    »Er geht hinein.« Waaler senkte seine Stimme. »Hauptkommissar Lønn ist hineingegangen und der junge Polizist wartet. Wartet auf Verstärkung. Wartet darauf, dass die Frau herauskommt. Wartet darauf, dass ihm jemand sagt, was er tun soll oder dass das Ganze bloß ein Traum oder eine Übung ist, dass er nach Hause gehen kann, denn es ist Freitag, und die Sonne scheint. Stattdessen hört er …«
    Waaler schnalzte mit der Zunge. »Dein Vater fällt gegen die Eingangstür, die sich öffnet, und bleibt auf der Schwelle liegen. Mit sechs Schüssen in der Brust.«
    Beate sank auf den Stuhl.
    »Der junge Polizist sieht den Hauptkommissar liegen und begreift plötzlich, dass es keine Übung ist. Kein Traum. Dass sie dort drinnen wirklich automatische Waffen haben und kaltblütig Polizisten erschießen. Er hat eine solche Angst, wie er sie noch niemals zuvor und auch niemals danach wieder verspürt hat. Er hat von so etwas gelesen, hatte gute Noten in den Psychologiefächern. Aber irgendetwas hat bereits nachgegeben. Er hat die Panik bekommen, die er in seinem Examen so gut beschrieben hat. Er setzt sich ins Auto und fährt weg. Er fährt und fährt, bis er zu Hause ist, und seine Frau, die er gerade geheiratet hat, tritt auf die Treppe und ist wütend, weil er zu spät zum Essen kommt. Wie ein Schuljunge steht er da und nimmt die Predigt entgegen, verspricht, dass es nie wieder vorkommen wird, und setzt sich dann an den Tisch. Nach dem Essen sehen sie fern, und ein Reporter berichtet, dass ein Polizist während eines Bankraubes erschossen worden ist. Dein Vater ist tot.«
    Beate verbarg ihr Gesicht in den Händen. Alles war wieder da. Der ganze Tag. Mit der runden, gleichsam verwundert fragenden Sonne am sinnlos wolkenfreien Himmel. Auch sie hatte das für einen Traum gehalten.
    »Wer können die Täter gewesen sein? Wer kennt den Namen deines Vaters, wer kennt alle, die im Dezernat arbeiten, und wer weiß, dass der eine der beiden Polizisten dort draußen, Hauptkommissar Lønn, eine Bedrohung darstellt? Wer ist es, der so kalt und strategisch ist, deinen Vater vor eine Wahl zu stellen, deren Ausgang er bereits kennt? So dass er ihn erschießen kann und anschließend ein leichtes Spiel mit dem jungen, ängstlichen Polizisten hat? Wer ist das, Beate?«
    Die Tränen rannen zwischen ihren Fingern hindurch. »Ras …« Sie schluchzte.
    »Ich habe dich nicht verstanden, Beate.«
    »Raskol.«
    »Raskol, ja. Und nur er. Sein Partner war nämlich wütend. Sie seien Räuber, keine Mörder, sagte er und war so dumm, Raskol damit zu drohen, ihn zu verpfeifen. Zum Glück gelang es ihm, sich ins Ausland abzusetzen, ehe Raskol ihn schnappen konnte.«
    Beate schluchzte. Waaler wartete.
    »Weißt du, was das Komischste ist? Dass du dich vom Mörder deines Vaters hast täuschen lassen. Genau wie dein Vater.«
    Beate blickte auf. »Wie … wie meinst du das?«
    Waaler zuckte mit den Schultern.

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