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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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hatte ihre Mutter geweint.
    Beate riss plötzlich die Augen auf. Es hatte an der Tür geklingelt. Sie stöhnte und schwang die Füße aus dem Bett.
    »Ich bin es«, sagte die Stimme durch die Sprechanlage.
    »Ich habe gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will«, sagte Beate, in dem dünnen Morgenmantel vor Kälte schlotternd. »Hau ab!«
    »Ich gehe sofort, aber ich möchte dich erst um Entschuldigung bitten. Ich war nicht ich selbst. Ich bin nicht so. Ich war bloß ein bisschen … wild. Bitte, Beate. Bloß fünf Minuten.«
    Sie zögerte. Ihr Nacken war noch immer steif und Harry hatte die blauen Flecken bemerkt.
    »Ich habe ein Geschenk für dich mitgebracht«, sagte die Stimme.
    Sie seufzte. Sie würde ihm ohnehin wieder begegnen, und da war es vielleicht besser, die Sache hier zu bereinigen, als später in der Arbeit. Sie drückte auf den Knopf, knotete den Morgenmantel zu und wartete in der Tür, während sie auf seine Schritte lauschte.
    »Hei«, sagte er, als er sie lächelnd ansah. Ein breites, weißes David-Hasselhoff-Lächeln.
     

 
     
     

    Kapitel 38 – Gyrus fusiforme
     
    Tom Waaler überreichte ihr das Geschenk, achtete aber darauf, sie nicht zu berühren, da sie noch immer die ängstliche Körpersprache einer Antilope zeigte, die ein Raubtier wittert. Stattdessen ging er an ihr vorbei ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Sie folgte ihm und blieb stehen. Er sah sich um. Die Wohnung sah in etwa so aus wie all die Wohnungen der jungen Frauen, in denen er in regelmäßigen Abständen landete: persönlich und unoriginell, gemütlich und langweilig.
    »Willst du es nicht aufmachen?«, fragte er. Sie tat es.
    »Eine CD«, sagte sie überrascht.
    »Nicht irgendeine CD«, sagte er. »Purple Rain. Lass sie mal laufen, dann verstehst du schon.«
    Er beobachtete sie, während sie die CD in das mickrige All-in-one-Gerät schob, das sie und ihre Mitschwestern Stereoanlage nannten. Fräulein Lønn war nicht wirklich schön, aber auf ihre Weise süß. Einen etwas langweiligen Körper ohne Formen, mit denen man hätte spielen können. Aber schlank und durchtrainiert. Und es hatte ihr gefallen, was er mit ihr gemacht hatte, sie hatte einen gesunden Enthusiasmus gezeigt. Zumindest in den ersten Runden, als er es etwas piano angegangen hatte. Tja, denn es war tatsächlich mehr als nur eine Runde geworden. Merkwürdig eigentlich, da sie so ganz und gar nicht sein Typ war.
    Doch eines Abends dann hatte er ihr das ganze Programm verabreicht. Und sie war – wie die meisten – nicht ganz einverstanden gewesen. Was die Sache für ihn umso prickelnder hatte werden lassen. Das bedeutete in der Regel allerdings auch, dass er das letzte Mal von ihnen gehört hatte. Was ihn in der Regel nicht störte. Doch Beate sollte sich freuen. Es hätte schlimmer kommen können. Ein paar Abende zuvor hatte sie ihm, als sie in seinem Bett lagen, plötzlich erzählt, wo sie ihn das erste Mal gesehen hatte.
    »In Grünerløkka«, hatte sie gesagt, »abends, du hast in einem roten Auto gesessen. Auf den Straßen war viel los und du hattest die Scheibe heruntergekurbelt. Es war im Winter. Im letzten Jahr.«
    Er war ziemlich überrascht gewesen. Insbesondere, da er sich nur an einen Abend erinnern konnte, an dem er im letzten Winter in Grünerløkka gewesen war, jenen Samstagabend nämlich, an dem sie Ellen Gjelten exekutiert hatten.
    »Ich erinnere mich an Gesichter«, hatte sie mit einem triumphierenden Lächeln gesagt, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Gyrus fusiforme. Das ist der Teil des Gehirns, der Gesichtsformen wiedererkennt. Meiner ist abnorm. Ich sollte im Zirkus auftreten.«
    »Soso«, hatte er geantwortet, »an was erinnerst du dich sonst noch?«
    »Du hast dich mit einer anderen Person unterhalten.«
    Er hatte sich auf die Ellenbogen aufgestützt, sich über sie gebeugt und ihr mit dem Daumen über den Kehlkopf gestreichelt. Ihren Puls wie einen kleinen, ängstlichen Hasen unter seinen Fingern gespürt. Oder war das sein eigener Puls gewesen?
    »Dann erinnerst du dich doch sicher auch an das Gesicht der anderen Person?«, hatte er gefragt und bereits nachgedacht, was er jetzt tun müsse. Wusste jemand, dass sie heute Abend hier war? Hatte sie über ihr Verhältnis den Mund gehalten, worum er sie nämlich gebeten hatte? Hatte er Mülltüten unter der Spüle?
    Sie hatte sich zu ihm gedreht und verwundert gelächelt: »Wie meinst du das?«
    »Würdest du die andere Person wiedererkennen, wenn man dir zum Beispiel

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