Die Fährte
»Ihr bittet Raskol, euch bei der Suche nach einem Mörder zu helfen. Dabei ist er selbst auf der Jagd nach einem Mann, der damit gedroht hat, gegen ihn in einer Mordsache auszusagen. Was tut er? Ist doch klar, dass er euch auf die Spur dieses Mannes setzt.«
»Lev Grette?« Sie wischte sich die Tränen ab.
»Warum nicht? So konntet ihr ihm helfen, ihn zu finden. Ich habe gelesen, dass ihr Grette erhängt aufgefunden habt. Dass er Selbstmord begangen hat. Da wäre ich mir nicht so verflucht sicher. Es würde mich nicht wundern, wenn euch da jemand ein bisschen zuvorgekommen wäre.«
Beate räusperte sich. »Du vergisst ein paar Sachen. Zum einen haben wir einen Abschiedsbrief gefunden. Lev hat nicht viele schriftliche Sachen hinterlassen, aber ich habe mit seinem Bruder gesprochen, der ein paar von Levs alten Schulheften auf dem Dachboden in Disengrenda gefunden hat. Ich habe sie mit zu Jean Hue genommen, dem Graphologen des Kriminalamts, der Levs Handschrift eindeutig erkannt hat. Zum anderen sitzt Raskol bereits im Gefängnis. Freiwillig. Das passt nicht ganz zu jemandem, der töten würde, um seiner Strafe zu entgehen.«
Waaler schüttelte den Kopf. »Du bist ein kluges Mädchen, aber wie deinem Vater fehlt dir die psychologische Einsicht. Du verstehst nicht, wie das Hirn eines Verbrechers funktioniert. Raskol sitzt nicht im Gefängnis, er ist nur vorübergehend im Botsen stationiert. Eine Verurteilung wegen Mordes würde alles verändern. Und in der Zwischenzeit schützt du ihn und seinen Freund Harry Hole.« Er beugte sich vor und legte seine Hand auf ihren Arm. »Tut mir Leid, wenn ich dir wehgetan habe, aber jetzt weißt du es, Beate. Dein Vater hat keinen Fehler gemacht. Und Harry arbeitet mit seinem Mörder zusammen. Also, was machen wir? Sollen wir Harry gemeinsam suchen?«
Beate kniff die Augen zusammen und drückte die letzten Tränen weg. Dann öffnete sie wieder die Augen. Waaler streckte ihr ein Taschentuch entgegen, das sie annahm.
»Tom«, sagte sie. »Ich muss dir etwas erklären.«
»Ist nicht nötig.« Waaler streichelte ihre Hand. »Ich verstehe das. Das ist ein Loyalitätskonflikt. Denk nur daran, was dein Vater gemacht hätte. Professionalität, nicht wahr?«
Beate sah ihn nachdenklich an. Dann nickte sie langsam. Sie holte tief Luft. Da klingelte das Telefon.
»Willst du nicht rangehen?«, fragte Waaler nach dreimaligem Klingeln.
»Das ist meine Mutter«, sagte Beate. »Ich rufe sie in dreißig Sekunden zurück.«
»Dreißig Sekunden?«
»Das ist die Zeit, die ich brauche, um dir zu sagen, dass du der Letzte wärst, dem ich sagen würde, wo Harry ist, wenn ich es denn wüsste.« Sie reichte ihm das Taschentuch. »Und für dich, die Schuhe anzuziehen und zu verschwinden.«
Tom Waaler spürte die Wut wie eine Fontäne in seinem Rücken und Nacken emporschießen. Er gewährte sich ein paar Sekunden, um das Gefühl zu genießen, ehe er sie mit einem Arm packte und unter sich zerrte. Sie rang nach Atem und wehrte sich, aber er wusste, dass sie seine Erektion spürte und dass sich die Lippen, die sie jetzt so fest zusammenpresste, bald öffnen würden.
Nach sechsmaligem Klingeln legte Harry auf und verließ die Telefonzelle, so dass das Mädchen hinter ihm hineinkonnte. Er drehte der Kjølberggate und dem Wind, der von dort herüberwehte, den Rücken zu, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in Richtung Parkplatz und Wohnwagen. Im Grunde war es komisch. Hier stand er – in der einen Richtung, ein paar gute Steinwürfe entfernt die Kriminaltechnik, in der anderen das Präsidium und in einer dritten die Wohnung. Im Anzug eines Zigeuners. Gesucht. Es war zum Totlachen.
Harry klapperten die Zähne. Er wandte sich halb ab, als ein Streifenwagen über die stark befahrene, aber ansonsten menschenleere Durchgangsstraße raste. Er hatte nicht schlafen können. Konnte einfach nicht untätig daliegen, während die Zeit gegen ihn arbeitete. Er drückte die Zigarettenkippe mit dem Absatz aus und wollte gehen, als er bemerkte, dass die Telefonzelle bereits wieder frei war. Er sah auf die Uhr. Bald Mitternacht, seltsam, dass sie nicht da war. Vielleicht schlief sie und war nicht rechtzeitig zum Telefon gekommen? Er wählte die Nummer noch einmal. Sie nahm sofort ab. »Beate.«
»Hier ist Harry. Habe ich dich geweckt?«
»Ich … ja.«
»Sorry. Soll ich lieber morgen anrufen?«
»Nein, schon gut, dass du jetzt anrufst.«
»Bist du alleine?«
Eine Pause folgte. »Warum fragst
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