Die Fährte
Kofferraum. Was, wenn der Typ trotzdem zu Hause ist?«
»Menschen, die zu Hause sind, gehen für gewöhnlich ans Telefon.«
»Und was, wenn er nach Hause kommt, während du in der Wohnung bist?«
»Dann tust du, was ich dir gesagt habe: zweimal kurz hupen.«
»Ja, ja, aber ich habe doch keine Ahnung, wie dieser Typ aussieht.«
»Um die dreißig, sagte ich doch. Wenn du so einen in die Nummer neun gehen siehst, hupst du.«
Øystein blieb an einem Parkverbot-Schild in der schmutzigen, verkehrsüberlasteten Darmschlinge von Straße stehen, die in einem verstaubten Buch mit dem Titel »Die Väter der Stadt IV«, aus der benachbarten Deichmann'schen Bibliothek, als »unansehnliche und höchst uninteressante Straße mit Namen Thor-Olsens-Gate« klassifiziert wurde. Doch gerade an eben diesem Abend passte Harry das ausgezeichnet. Der Lärm, die vorbeifahrenden Autos und die Dunkelheit würden ihn schützen, und niemandem würde überdies ein wartendes Taxi auffallen.
Harry schob das Brecheisen in den Ärmel seiner Lederjacke und ging schnell über die Straße. Zu seiner Erleichterung sah er, dass die Nummer neun mindestens zwanzig Klingelknöpfe bot. Das eröffnete ihm mehrere Möglichkeiten, wenn der Bluff nicht gleich bei den ersten Versuchen klappte. Alf Gunneruds Name stand in der rechten Reihe an zweitoberster Stelle. Er blickte rechts vom Eingang an der Fassade empor. Hinter den Fenstern der fünften Etage war kein Licht. Harry klingelte im Erdgeschoss. Eine schlaftrunkene Frauenstimme antwortete.
»Hei, ich will zu Alf«, sagte Harry. »Aber die haben da oben wohl die Musik so laut, dass sie mein Klingeln nicht hören. Also zu Alf Gunnerud. Dem Schlosser in der Fünften. Könn' Se mir nicht die Tür aufmachen?«
»Es ist nach Mitternacht.«
»Tut mir Leid, gute Frau, ich sorg dafür, dass die da oben die Musik leiser machen.«
Harry wartete. Dann kam der Summton.
Harry nahm drei Stufen auf einmal. In der fünften Etage blieb er stehen und lauschte, doch er hörte nur sein eigenes, klopfendes Herz. Er hatte zwei Türen zur Auswahl. Auf der einen klebte ein Pappzettel mit der Aufschrift »Andersen«, die andere war leer.
Dies war der kritischste Teil seines Plans. Ein einfaches Schloss wäre leicht aufzuheben, ohne das ganze Haus aufzuwecken, aber wenn Alf das ganze Arsenal seines Schlüsseldienstes nutzte, hatte Harry ein Problem. Er scannte die Tür von oben bis unten. Kein Aufkleber des Wachdienstes Falken oder anderer Alarmzentralen. Keine bohrsicheren Sicherheitsschlösser und auch keine Twinzylinder mit doppelten Stiftreihen, bei denen jeder Dietrich versagte. Nur ein altes Yale-Zylinderschloss. Mit anderen Worten also das, was die Engländer a piece of cake nennen.
Harry zog den Ärmel der Lederjacke gerade und fing das herausfallende Brecheisen mit der Hand auf. Er zögerte, bevor er die Spitze des Eisens in den Türspalt unter dem Schloss drückte. Das alles ging beinahe zu leicht. Doch er hatte keine Zeit nachzudenken und auch keine andere Wahl. Er brach die Tür nicht auf, sondern drückte sie in Richtung der Scharniere, so dass er Øysteins Scheckkarte in den Spalt schieben konnte, während die Falle im Schließblech auf Spannung kam. Dann legte er noch etwas mehr Gewicht auf das Eisen und drückte mit der Fußsohle unten gegen die Türkante. Die Tür knackte in den Scharnieren, als er dem Brecheisen einen Stoß gab und gleichzeitig die Scheckkarte bewegte. Er schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter sich. Die ganze Operation hatte acht Sekunden gedauert.
Das Brummen eines Kühlschranks und Sitcom-Lachen von einem Nachbarfernseher. Harry versuchte ruhig und tief zu atmen, während er in die Dunkelheit lauschte. Er konnte die Autos von draußen hören und spürte einen kalten Luftzug, was beides darauf hindeutete, dass die Wohnung alte Fenster hatte. Aber das Wichtigste: Nichts deutete darauf hin, dass jemand in der Wohnung war.
Er fand den Lichtschalter. Der Flur konnte zweifellos eine leichte Renovierung vertragen, das Wohnzimmer eine umfassende Sanierung. Die Küche war abbruchreif. Und das Interieur der Wohnung begründete die fehlenden Sicherungsmaßnahmen. Oder besser gesagt – das Fehlen des Interieurs. Denn Alf Gunnerud hatte nichts, nicht einmal die eine Stereoanlage, die er auf Harrys Aufforderung hin hätte leiser stellen können. Den einzigen Hinweis darauf, dass hier jemand wohnte, boten zwei Campingstühle und ein grüner Wohnzimmertisch sowie die überall verstreuten
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