Die Fährte
Internet. Besonders dort. Dort konnte sie so tun, als wäre sie eine andere, eine der Romanfiguren aus den Büchern, die sie übersetzte, oder Ramona, die dekadente, promiskuöse, aber furchtlose Frau, die sie in einem früheren Leben gewesen war. Astrid hatte Ramona entdeckt, als sie klein war. Sie war Tänzerin, hatte lange, schwarze Haare und braune, mandelförmige Augen. Astrid hatte Ramona immer wieder gemalt, insbesondere ihre Augen, doch sie musste das heimlich tun, denn ihre Mutter zerriss die Zeichnungen immer wieder und sagte, sie wolle einen solchen Schund nicht im Hause haben. Ramona war über viele Jahre verschwunden gewesen, doch dann war sie zurückgekommen, und Astrid hatte bemerkt, wie Ramona mehr und mehr die Leitung übernahm, ganz besonders, wenn sie den männlichen Autoren schrieb, die sie übersetzte. Nach den einleitenden Phrasen über Sprache und Referenzen sandte sie gerne auch unformelle Mails. Schon nach kurzer Zeit baten die französischen Autoren häufig inständig darum, sie doch einmal treffen zu können, wenn sie in Oslo waren, um ein Buch zu lancieren, oder – allein, sie zu treffen, sei Grund genug für eine Reise. Immer lehnte sie ab, ohne dass das aber abschreckend auf die engagierten Werber wirkte, eher im Gegenteil. Das war es, was aus ihr als Autorin nun geworden war, nachdem sie vor einigen Jahren aus dem Traum aufgewacht war, selber einmal Bücher zu schreiben. Ein Verlagslektor hatte am Telefon die Beherrschung verloren und sie angefaucht, ihn endlich mit ihrem hysterischen Gejammer zu verschonen, für das kein Leser jemals bereit wäre, Geld auszugeben, und für das sich allenfalls ein Psychologe interessieren würde, der dann aber gegen Bezahlung.
»Astrid Monsen!«
Sie spürte, wie sich ihr Hals zusammenschnürte und sie augenblicklich Panik bekam. Hier draußen auf der Straße durfte sie jetzt keine Atemnot bekommen. Sie wollte gerade über die Straße gehen, als die Ampel auf Rot schaltete. Sie hätte es noch geschafft, aber sie ging nie bei Rot.
»Guten Tag, ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen.« Harry Hole schloss zu ihr auf. Er hatte noch immer den gleichen gejagten Gesichtsausdruck und die roten Augen. »Lassen Sie mich Ihnen erst einmal sagen, dass ich Waalers Bericht über Ihr Gespräch gelesen habe. Und dass ich weiß, dass Sie mir gegenüber gelogen haben, weil Sie Angst hatten.«
Sie spürte, dass sie bald zu hyperventilieren beginnen würde.
»Es war wirklich dumm von mir, Ihnen nicht gleich alles über meine Rolle in diesem Fall zu sagen«, sagte der Polizist.
Überrascht blickte sie zu ihm auf. Er hörte sich wirklich aufrichtig an.
»Und ich habe in der Zeitung gelesen, dass der Schuldige endlich gefasst ist«, hörte sie sich selbst sagen.
Sie blieben stehen und sahen einander an.
»Und sogar tot«, fügte sie leise hinzu.
»Tja«, sagte er und versuchte zu lächeln. »Vielleicht könnten Sie mir trotzdem bei ein paar Fragen weiterhelfen?«
Zum ersten Mal saß sie nicht allein an ihrem Tisch bei Bäcker Hansen. Das Mädchen hinter der Theke hatte sie mit einem verwegenen Wir-sind-doch-Freundinnen-Blick angesehen, als ob der groß gewachsene Mann an ihrer Seite ein Verehrer sei. Und da er aussah, als komme er geradewegs aus dem Bett, dachte das Mädchen vielleicht sogar, dass … nein, daran wollte sie jetzt nicht denken.
Sie hatten sich gesetzt, und er hatte ihr den Ausdruck einiger Mails gegeben, die sie sich ansehen sollte. Ob sie als Autorin erkennen könne, ob die von einem Mann oder von einer Frau geschrieben waren? Sie hatte sie sich angesehen. Autorin hatte er gesagt. Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Sie hob ihre Teetasse vor den Mund, damit er nicht sehen konnte, dass sie bei diesem Gedanken lächeln musste. Natürlich nicht. Sie musste lügen.
»Schwierig zu sagen«, meinte sie. »Ist das Fiktion?«
»Sowohl als auch«, sagte Harry. »Wir glauben, dass sie von der Person stammen, die Anna Bethsen ermordet hat.«
»Dann wird das wohl ein Mann sein.«
Harry blickte auf die Tischplatte und sie sah rasch zu ihm auf. Er war nicht schön, hatte aber etwas. Sie hatte das — so unwahrscheinlich sich das auch anhörte – schon gesehen, als sie ihn vor ihrer Tür auf dem Flur liegen sah. Vielleicht weil sie einen Cointreau mehr als üblich getrunken hatte, aber sein Gesicht war ihr friedlich vorgekommen, sie hatte es als beinahe schön empfunden, als er so wie ein schlafender Prinz dalag, den jemand vor ihre Tür gelegt hatte. Der
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