Die Fährte
Inhalt seiner Taschen hatte auf dem Treppenabsatz verstreut gelegen und sie hatte alles eingesammelt. Sogar in seine Geldbörse hatte sie einen Blick geworfen und Namen und Adresse herausgefunden.
Harry hob seinen Blick und sie sah rasch weg. Wäre es möglich, ihn zu mögen? Bestimmt. Das Problem war, dass er sie nicht mögen würde. Hysterisches Gejammer. Grundlose Furcht. Weinkrämpfe. So etwas würde er nicht haben wollen. Er wollte solche wie Anna Bethsen. Wie Ramona.
»Sind Sie sich sicher, dass Sie sie nicht wiedererkennen?«, fragte er langsam.
Sie sah ihn entgeistert an. Erst da bemerkte sie, dass er ein Bild in der Hand hielt. Er hatte ihr das gleiche Bild schon einmal gezeigt. Eine Frau und zwei Kinder am Strand.
»Zum Beispiel aus der Mordnacht?«, fragte er.
»Hab ich nie in meinem Leben gesehen«, antwortete sie mit fester Stimme.
Es begann wieder zu schneien. Große, nasse Schneeflocken, die bereits schmutzig grau waren, ehe sie sich auf den braunen Boden zwischen dem Präsidium und dem Botsen legten. Im Büro wartete eine Nachricht von Weber auf ihn. Sie bestätigte Harrys Verdacht, den Verdacht, der ihn die Mails noch einmal unter einem anderen Gesichtspunkt hatte ansehen lassen. Trotzdem kam Webers kurze, sachliche Nachricht wie ein Schock. Eine Art erwarteter Schock.
Den Rest des Tages hing Harry am Telefon, wenn er nicht zur Faxmaschine rannte. In den Pausen dazwischen dachte er nach, stapelte Stein auf Stein und versuchte, nicht daran zu denken, nach was er suchte. Aber es war zu deutlich geworden. Diese Achterbahn konnte steigen, fallen und sich drehen, so viel sie wollte, sie war dennoch wie alle anderen Achterbahnen und musste dort enden, wo sie begann.
Als Harry fertig war und das meiste klar vor ihm lag, lehnte er sich im Bürostuhl zurück. Er fühlte keinen Triumph, bloß Leere.
Rakel stellte keine Fragen, als er anrief und sagte, sie solle nicht auf ihn warten. Danach ging er die Treppe zur Kantine nach oben und hinaus auf die Terrasse, auf der ein paar Raucher standen und schlotterten. Die Lichter der Stadt blinkten bereits unter ihm in der frühen Nachmittagsdämmerung. Harry zündete sich eine Zigarette an, fuhr mit der Hand über die Brüstung und formte einen Schneeball. Er knetete ihn fester, schlug härter und härter mit den Handflächen dagegen, bis das Schmelzwasser durch seine Finger rann. Dann warf er ihn in Richtung Stadt. Er sah dem glänzenden Schneeball nach, der sich nach unten senkte, schneller und schneller, bis er mit dem grauweißen Hintergrund verschwamm.
»In meiner Klasse war einer, der Ludwig Alexander hieß«, sagte Harry laut.
Die Raucher stampften mit den Beinen auf den Boden und sahen Harry an.
»Er spielte Klavier und wurde bloß Dis genannt. Weil er einmal im Musikunterricht dumm genug gewesen war, der Lehrerin gegenüber zu erwähnen, dass Dis seine Lieblingstonart war. Wenn der erste Schnee fiel, gab es in jeder Pause Schneeballschlachten zwischen den einzelnen Klassen. Dis wollte nicht mitmachen, aber wir zwangen ihn dazu. Das war das Einzige, wobei er mitmachen durfte. Als Kanonenfutter. Er selbst warf so schwach, dass seine Schüsse immer nur schwächliche Lobs wurden. Die andere Klasse hatte Roar, einen dicken Kerl, der in Oppsal Handball spielte. Er hat die Schneebälle von Dis immer zum Spaß mit dem Kopf angenommen und Dis anschließend mit seinen Unterarmschüssen blau und grün gepfeffert. Eines Tages hat Dis einen großen Stein in seinen Schneeball gesteckt und ihn so hoch geworfen, wie er konnte. Roar sprang lachend auf und holte Schwung zum Kopfball. Es hörte sich an, wie wenn ein Stein in einem flachen Gewässer auf einen anderen Stein fällt, irgendwie hart und weich gleichzeitig. Das war das einzige Mal, dass ich den Krankenwagen in der Schule gesehen habe.«
Harry zog hart an seiner Zigarette.
»Im Lehrerzimmer haben sie lange darüber gestritten, ob Dis eine Strafe bekommen sollte. Er hatte den Schneeball ja auf niemanden geworfen, es ging also um die Frage, ob eine Person dafür bestraft werden sollte, nicht berücksichtigt zu haben, dass sich ein Idiot wie ein Idiot aufführte.«
Harry drückte die Zigarette aus und ging hinein.
Es war bereits nach halb vier. Der kalte Wind fegte über den offenen Platz zwischen dem Akerselva und der U-Bahn-Station Grønlands Torg, wo die übliche Klientel aus Schülern und Rentnern langsam durch Frauen und Männer mit Schlips und verschlossenen Gesichtern ersetzt wurde, die von
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