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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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zwölfstöckigen Haus blieben sie stehen. Nebenan leuchtete das Logo der DnB von einem blauen Neonschild über der Eingangstüre.
    »Stefan bekam vier Jahre, weil er mit der Pistole in die Decke geschossen hatte«, sagte Simon. »Aber nach dem Gerichtsverfahren geschieht etwas Merkwürdiges, weißt du. Raskol besucht Stefan im Botsen, und tags darauf sagt einer der Gefängniswärter, der neue Gefangene habe sich im Aussehen irgendwie verändert. Sein Chef meint, das sei nichts Ungewöhnliches bei denen, die zum ersten Mal im Gefängnis sitzen. Er erzählt von Frauen, die ihre eigenen Männer nicht wiedererkannt haben, als sie zum ersten Mal zu Besuch kamen. Der Wärter lässt sich damit beruhigen, doch einige Tage später erhält das Gefängnis einen Anruf von einer Frau. Sie sagt, dass sie den falschen Gefangenen haben, dass der kleine Bruder von Stefan Baxhet nun für ihn im Knast sitze und entlassen werden müsse.«
    »Ist das wirklich wahr?«, fragte Harry, zog den Zigarettenanzünder heraus und zündete sich die Zigarette an.
    »Aber sicher«, sagte Simon. »Im Süden von Europa ist es bei Zigeunern üblich, dass die jüngeren Geschwister oder Söhne für den Verurteilten büßen, wenn der eine Familie zu versorgen hat. Wie Stefan. Das ist eine Ehrensache für uns, weißt du.«
    »Aber die Behörden müssen den Fehler doch bemerken?«
    »Tja!« Simon breitete die Hände aus. »Für euch ist ein Zigeuner ein Zigeuner. Wenn er für etwas einsitzt, was er nicht getan hat, dann hat er sich doch bestimmt noch eines anderen Verbrechens schuldig gemacht, oder?«
    »Von wem kam der Anruf?«
    »Das haben sie nie herausgefunden. Aber in der gleichen Nacht verschwand Maria. Sie sahen sie nie wieder. Die Polizei fuhr Raskol mitten in der Nacht nach Tøyen und Stefan wurde trampelnd und fluchend aus dem Wohnwagen getragen. Anna war zwei Jahre alt und lag im Bett und schrie nach ihrer Mama, doch niemand, weder Männer noch Frauen, konnte sie beruhigen. Das gelang erst, als Raskol hereinkam und sie auf den Arm nahm.«
    Sie starrten auf den Eingang der Bank. Harry blickte auf die Uhr. In wenigen Minuten würde sie schließen. »Was geschah dann?«
    »Als Stefan seine Strafe abgesessen hatte, verließ er sofort das Land. Ich habe manchmal mit ihm telefoniert. Er reiste viel.«
    »Und Anna?«
    »Sie wuchs im Wohnwagen auf, weißt du. Raskol schickte sie auf die Schule. Sie bekam gadzo -Freunde. Gadzo -Gewohnheiten. Sie wollte nicht wie wir leben, sie wollte tun, was ihre Freunde taten – über sich selbst bestimmen, eigenes Geld verdienen und eine eigene Wohnung haben. Nachdem sie die Wohnung ihrer Großmutter geerbt hatte und in die Sorgenfrigata gezogen war, hatten wir nichts mehr mit ihr zu tun. Sie … ja. Es war ihre eigene Entscheidung, wegzugehen. Der Einzige, zu dem sie einen losen Kontakt hatte, war Raskol.«
    »Glaubst du, sie wusste, dass er ihr Vater war?«
    Simon zuckte mit den Schultern. »Soweit ich weiß, hat niemand je etwas gesagt, aber ich bin mir sicher, dass sie es wusste.« Sie saßen still da.
    »Hier war es«, sagte Simon schließlich.
    »Kurz vor Bankschluss«, sagte Harry. »Genau wie jetzt.«
    »Er hätte Lønn nicht erschossen, wenn er nicht dazu gezwungen gewesen wäre«, sagte Simon. »Aber er tut, was er tun muss. Er ist ein Krieger, weißt du.«
    »Keine kichernde Konkubine.«
    »Was?«
    »Ach nichts. Wo ist Stefan, Simon?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Harry wartete. Sie sahen einen Bankangestellten die Tür von innen verriegeln. Harry wartete noch immer.
    »Als ich ihn zuletzt gesprochen habe, rief er aus einer Stadt in Schweden an«, sagte Simon. »Göteborg. Weiter kann ich dir nicht helfen.«
    »Ich bin es nicht, dem du hilfst.«
    »Ich weiß«, Simon seufzte. »Ich weiß.«
     
    Harry fand das weiße Haus im Vetlandsvei. Die Lichter brannten auf beiden Etagen. Er parkte, stieg aus, blieb stehen und sah in Richtung U-Bahn-Station. Dort hatten sie sich an den ersten dunklen Herbstabenden versammelt, um auf Äpfelklau zu gehen. Siggen, Tore, Kristian, Torkild, Øystein und Harry. Das war die feste Mannschaftsaufstellung. Sie waren nach Nordstrand geradelt, denn da waren die Äpfel größer und die Chancen geringer, dass jemand wusste, wer ihre Väter waren. Siggen war immer als Erster über die Zäune und Øystein hatte Wache gehalten. Und Harry war der Größte gewesen und hatte die dicksten Äpfel erreicht. Doch an einem Abend hatten sie keine Lust gehabt, so weit zu radeln, und einen Zug durch

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