Die Fährte
so viele in Oslo in Umlauf sind – die mit den abgeschliffenen Fabrikationsnummern? Er holte ihr die Pistole, eine Beretta M92F, während sie aufs Klo ging. Vielleicht kam ihm ja in den Sinn, dass sie seltsam lange dort blieb. Und als sie wieder zurück war, hatte sie es plötzlich eilig und musste gehen. So könnte es jedenfalls abgelaufen sein.«
Raskol biss die Kiefer so hart zusammen, dass seine Lippen schmal wurden. Harry lehnte sich nach hinten. »Als Nächstes ging es darum, in Albus Hütte zu kommen und den Reserveschlüssel für ihre Wohnung dort in die Nachttischschublade zu schmuggeln. Auch das war kein Problem, denn sie wusste ja, dass der Hüttenschlüssel in der Lampe war. Während sie dort war, riss sie auch das Bild von Vigdis und den Kindern aus dem Fotoalbum und nahm es mit. Und damit war alles klar. Jetzt hieß es nur noch warten. Darauf, dass Harry zum Essen kam. Auf der Speisekarte stand Tom Yam mit Japone-Chili und Cola mit Morphinhydrochlorid. Die letzte Zutat ist besonders populär als Vergewaltigungsdroge. Sie ist flüssig, hat keinen wirklichen Eigengeschmack, und die Dosierung ist einfach bei absolut voraussagbarer Wirkung. Das Opfer wird mit einem Blackout aufwachen, als dessen Ursache es Alkohol vermuten wird, da alles an einen heftigen Kater erinnert. Und eigentlich kann man ja auch sagen, dass ich vergewaltigt worden bin. Ich war so benebelt, dass sie keine Probleme hatte, mir das Handy aus der Jacke zu nehmen, ehe sie mich durch die Tür schob. Nachdem ich gegangen war, folgte sie mir, schloss sich in meinem Kellerverschlag ein und koppelte das Handy an den Laptop. Als sie zurückkam, schlich sie sich die Treppe nach oben. Astrid Monsen hörte sie, glaubte aber, dass es Frau Gundersen aus dem dritten Stock war. Und dann bereitete Anna sich auf ihren letzten Auftritt vor, ehe sie den Rest der Handlung sich selbst überließ. Sie wusste natürlich, dass ich mich für die Sache interessieren würde, dienstlich oder privat, weshalb sie mir ein patrin gab. Sie nahm die Pistole in die rechte Hand, obgleich sie Linkshänderin war. Und sie steckte das Bild in ihren Schuh.«
Raskols Lippen bewegten sich, doch es kam kein Laut über sie.
Harry fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ihr letzter Handstreich, um das Meisterwerk zu vollenden, war, den Abzug zu drücken.«
»Aber warum?«, wisperte Raskol.
Harry zuckte mit den Schultern. »Anna war eine extreme Person. Sie wollte sich an den Menschen rächen, die ihr genommen hatten, wofür sie lebte. Die Liebe. Die Schuldigen waren Albu, Gunnerud und ich. Und eure Familie. Kurz gesagt: Der Hass hat gewonnen.«
»Bullshit«, sagte Raskol.
Harry drehte sich um und nahm das Bild von Raskol und Stefan von der Wand und legte es zwischen sie auf den Tisch.
»Hat der Hass in Ihrer Familie nicht immer die Oberhand behalten?«
Raskol legte den Kopf in den Nacken und leerte sein Glas. Dann lächelte er breit.
An die nächsten Sekunden erinnerte sich Harry im Nachhinein wie an ein Video im schnellen Vorlauf. Als es vorbei war, lag er auf dem Boden, Raskols Klammergriff im Nacken, Alkohol in den Augen, den Geruch von Calvados in der Nase und mit den Scherben der zerbrochenen Flasche am Hals.
»Es gibt nur eine Sache, die gefährlicher ist als hoher Blutdruck, Spiuni«, flüsterte Raskol. »Zu niedriger. Also bleib ganz still liegen.«
Harry schluckte und versuchte zu reden, doch Raskol drückte fester zu, so dass es nur ein Stöhnen wurde.
»Sun Tzu ist ganz eindeutig, was Hass und Liebe angeht, Spiuni. Beide, Hass und Liebe gewinnen im Krieg, sie sind unzertrennlich wie siamesische Zwillinge. Was verliert, sind Wut und Mitleid.«
»Dann sind wir beide im Begriff zu verlieren«, stöhnte Harry.
Raskol straffte wieder seinen Griff. »Meine Anna hätte sich niemals für den Tod entschieden.« Seine Stimme zitterte. »Sie hat das Leben geliebt.«
Harry konnte seine Worte nur noch fauchen. »Wie – Sie – die – Freiheit – lieben?«
Raskol lockerte seine Umklammerung wieder ein wenig, so dass Harry pfeifend Luft in seine schmerzende Lunge ziehen konnte. Sein Herz hämmerte in seinem Kopf, doch das Rauschen der Autos draußen kam wieder.
»Sie haben eine Entscheidung getroffen«, zischte Harry, »Sie haben sich entschlossen zu büßen. Unverständlich für andere, aber das war Ihre Entscheidung. Das Gleiche hat Anna getan.«
Raskol presste die Flasche gegen Harrys Hals, als dieser sich zu bewegen versuchte. »Ich hatte meine
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