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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Ramona
     
    Harry fand Vigdis Albu unten am Strand. Sie saß, die Arme um die Knie geschlungen, auf dem gleichen Felsen, auf dem er geschlafen hatte, und starrte über den Fjord. Im Morgendunst sah die Sonne wie ein bleicher Abklatsch von sich selbst aus. Gregor lief Harry witternd entgegen. Es war Ebbe und die Luft roch nach Tang und Öl. Harry setzte sich auf einen Stein hinter sie und fummelte sich eine Zigarette heraus.
    »Haben Sie ihn gefunden?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen. Harry fragte sich, wie lange sie auf ihn gewartet hatte.
    »Es waren mehrere, die ihn gefunden haben«, sagte er. »Ich war einer davon.«
    Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn, die ihr der Wind vor die Augen geblasen hatte. »Ich auch. Aber das ist lange, lange her. Sie werden mir vielleicht nicht glauben, aber ich habe ihn einmal geliebt.«
    Harry klickte mit seinem Feuerzeug. »Warum sollte ich Ihnen nicht glauben?«
    »Glauben Sie, was Sie wollen. Nicht alle Menschen können wirklich lieben. Wir – und die – glauben das vielleicht, aber das stimmt nicht. Sie lernen die Mimik, die Antworten, die Vorgehensweise, das ist alles. Und manch einer davon wird so gut, dass wir uns täuschen lassen. Was mich am meisten wundert, ist nicht, dass die das schaffen, sondern dass die sich dafür so anstrengen. Warum all die Mühe, um ein Gefühl erwidert zu bekommen, das sie selbst nicht einmal kennen. Verstehen Sie das, Wachtmeister?«
    Harry antwortete nicht.
    »Vielleicht haben die einfach nur Angst«, sagte sie und wandte sich zu ihm. »Sich selbst im Spiegel zu sehen und zu entdecken, dass sie Krüppel sind.«
    »Von wem reden Sie, Frau Albu?«
    Sie drehte sich wieder zum Wasser. »Wer weiß? Anna Bethsen. Arne. Ich selbst. Das, was aus mir geworden ist.«
    Gregor leckte Harrys Hand.
    »Ich weiß, wie Anna Bethsen getötet wurde«, sagte Harry. Er betrachtete ihren Rücken, bemerkte aber keine Reaktion. Beim zweiten Versuch gelang es ihm, die Zigarette anzuzünden. »Gestern Nachmittag habe ich von der Kriminaltechnik das Analyseergebnis des Inhalts von einem der vier Gläser bekommen, die bei Anna Bethsen auf dem Küchenschrank standen. Auf dem Glas waren meine Fingerabdrücke. Ich hatte anscheinend Cola getrunken. Ich hätte das auch niemals zusammen mit Wein getrunken. Außerdem war das andere Weinglas unbenutzt. Das Interessanteste ist aber, dass sie in den Resten der Cola Spuren von Morphinhydrochlorid gefunden haben. Besser bekannt als Morphin. Sie kennen doch die Wirkung einer hohen Dosierung, nicht wahr, Frau Albu?«
    Sie sah ihn an und schüttelte langsam den Kopf.
    »Nicht?«, fragte Harry. »Kollaps und Verlust der Erinnerung an die Zeit, während der man unter der Droge steht, verbunden mit heftiger Übelkeit, wenn man wieder zu sich kommt. Man kann das, mit anderen Worten, leicht mit den Auswirkungen von zu viel Alkohol verwechseln. Genau wie Rohypnol eignet es sich deshalb gut als Vergewaltigungsdroge. Und vergewaltigt worden sind wir. Wir alle. Nicht wahr, Frau Albu?«
    Eine Möwe lachte kreischend über ihnen.
     
    »Sie schon wieder«, sagte Astrid Monsen mit kurzem, nervösem Lachen und ließ ihn in ihre Wohnung. Sie setzten sich in die Küche. Sie schwirrte herum, kochte Tee und stellte einen Kuchen auf den Tisch, den sie bei Bäcker Hansen für den Fall gekauft hatte, dass sie Besuch bekam. Harry murmelte Belanglosigkeiten über den gestrigen Schnee und dass sich die Welt doch nicht so geändert hatte, obwohl alle geglaubt hatten, dass sie wie diese Hochhäuser im Fernsehen kollabieren würde. Erst als sie den Tee eingegossen und sich gesetzt hatte, fragte er, was sie von Anna gehalten habe. Sie blieb mit offenem Mund sitzen.
    »Sie haben sie gehasst, nicht wahr?«
    In der Stille, die folgte, war aus einem anderen Raum ein kleines, elektronisches Pling zu hören.
    »Nein, ich habe sie nicht gehasst.« Astrid umklammerte eine gewaltige Tasse mit grünem Tee. »Sie war einfach … anders.«
    »Wie anders?«
    »Das Leben, das sie lebte. Ihre Art. Es gelang ihr, so zu sein … wie sie sein wollte.«
    »Und das hat Ihnen nicht gefallen?«
    »Ich … ich weiß nicht. Nein, vermutlich nicht.«
    »Warum nicht?«
    Astrid Monsen sah ihn an. Lange. Ein Lächeln flatterte wie ein Schmetterling immer wieder durch ihren Blick.
    »Es ist nicht so, wie Sie glauben«, sagte sie. »Ich habe Anna beneidet. Ich habe sie bewundert. Es gab Tage, da wünschte ich mir, sie zu sein. Sie war das Gegenteil von mir. Ich hocke hier drinnen,

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