Die Fährte
schloss die Tür hinter sich. Harry faltete die Hände und hob den Blick. Raskols Augen glänzten, als habe er Fieber.
»Sie wissen es schon seit einer Weile, nicht wahr?«, sagte Harry leise.
Raskol presste die Handflächen gegeneinander, anscheinend ein Zeichen für Ruhe, aber die weißen Fingerkuppen bewiesen etwas anderes.
»Vielleicht hat Anna Sun Tzu gelesen«, sagte Harry. »Vielleicht wusste sie, dass es das erste Prinzip eines jeden Krieges ist, zu betrügen. Trotzdem gab sie mir die Lösung, es ist mir nur nicht gelungen, den Code zu knacken. Ce, Kreuz, Em und En. Sie hat mir sogar den Tipp gegeben, dass die Netzhaut die Sachen seitenverkehrt darstellt, so dass man sie nur im Spiegel richtig sieht.«
Raskol hatte die Augen geschlossen. Er sah aus, als spreche er ein Gebet. »Sie hatte eine Mutter, die schön und verrückt war«, flüsterte er. »Anna hat beides geerbt.«
»Sie haben das Anagramm längst gelöst, das weiß ich«, sagte Harry. »Ihre Unterschrift war ein C mit einem Kreuz, das Zeichen für den Ton Cis. Dann ein M und ein N. Liest man die Unterschrift so, wird daraus Cis-Em-En. Schreiben Sie es auf und sehen Sie es sich im Spiegel an. Ne-me-sic. Nemesis. Die weibliche Rächerin. Sie hat es mir ins Gesicht gesagt. Das war ihr Meisterwerk. Für das sie in Erinnerung bleiben würde.«
Harry sagte das ohne jeden Triumph in der Stimme. Er stellte es einfach fest. Und es schien, als schließe der kleine Wohnwagen sie noch enger ein.
»Erzählen Sie mir den Rest«, flüsterte Raskol.
»Sie können es sich doch denken.«
»Erzählen Sie!«, fauchte er.
Harry blickte zu dem kleinen, runden Fenster über dem Tisch, das bereits beschlagen war. Ein Bullauge. Ein Raumschiff. Plötzlich dachte er, er würde, wenn er die Feuchtigkeit vom Fenster wischte, entdecken, dass sie sich im Weltraum befanden, zwei einsame Astronauten im Pferdekopfnebel an Bord eines fliegenden Wohnwagens. Das wäre alles auch nicht fantastischer als das, was er jetzt erzählen sollte.
Kapitel 45 – Die Kunst des Krieges
Raskol richtete sich auf und Harry begann:
»Im Sommer bekam mein Nachbar, Ali Niazi, einen Brief von einer Person, die meinte, seit einigen Jahren die Mietnebenkosten zu schulden. Ali konnte den Namen in der Bewohnerliste nicht finden und schrieb ihm in einem Brief, dass er die Sache vergessen könne. Sein Name war Eriksen. Gestern habe ich Ali angerufen und ihn gebeten, den Brief noch einmal herauszusuchen. Es zeigte sich, dass der Absender in der Sorgenfrigate 17 wohnte. Astrid erzählte mir, dass auf Annas Briefkasten im Sommer während ein paar Tagen ein zweites Namensschild aufgeklebt war. Eriksen. Was wollte sie mit dem Brief? Ich rief beim Schlüsseldienst Läsesmeden AS an. Dort gab es tatsächlich eine Schlüsselbestellung für meine Wohnung. Man hat mir die entsprechenden Papiere gefaxt. Das Erste, was ich bemerkte, war, dass die Bestellung eine Woche vor Annas Tod aufgegeben worden war. Der Auftrag war von Ali unterschrieben, dem Hausverwalter und Schlüsselverantwortlichen für den ganzen Block. Die Fälschung der Unterschrift auf dem Formular war nicht gerade gut. Als sei sie von einem mittelmäßigen Maler irgendwo abgemalt worden, zum Beispiel von dem Brief, den sie bekommen hatte. Doch für den Schlüsseldienst reichte sie, denn der bestellte prompt einen Schlüssel für Harry Hole bei Trioving. Harry Hole musste ja ohnedies persönlich kommen, sich ausweisen und den Erhalt des Schlüssels quittieren. Und das tat er. In dem Glauben, dass er für den Erhalt eines Reserveschlüssels für Annas Wohnung quittierte. Zum Totlachen, nicht wahr?«
Raskol schien nicht nach Lachen zumute zu sein.
»Zwischen diesem Treffen und dem Essen am nächsten Tag bereitete sie alles vor. Sie bestellte ein Abonnement für Harrys Handynummer bei einem Server in Ägypten und programmierte die Mails mit Ausgabedatum und -uhrzeit in ihrem Laptop. Tagsüber ging sie in meinen Keller und fand heraus, welcher Verschlag der meine war. Mit dem gleichen Schlüssel ging sie in meine Wohnung, um etwas, das schnell einen Bezug zu mir herstellte, in Alf Gunneruds Wohnung zu platzieren. Sie wählte das Bild von Søs und mir. Der nächste Programmpunkt war ein Besuch bei ihrem ehemaligen Lover und Dealer. Vermutlich war Alf Gunnerud reichlich überrascht, sie wiederzusehen. Was wollte sie? Vielleicht eine Pistole leihen oder kaufen? Weil sie wusste, dass er eine der Waffen hatte, von denen gerade jetzt
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