Die Fährte
Selbstmord. Aber mit ihrer offensichtlichen Bewunderung für die Antike hat sich Anna möglicherweise auf die griechischen Philosophen gestützt, die der Meinung waren, dass die Menschen selbst entscheiden sollten, wann sie sterben. Auch Nietzsche war der Ansicht, dass der Einzelne das volle moralische Recht habe, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er verwendete sogar das Wort ›Freitod‹ oder ›Freiwilliger Tod‹.« Aune hob den Zeigefinger. »Aber sie stand auch noch vor einem anderen moralischen Dilemma. Der Rache. Die christliche Ethik, zu der sie sich schließlich bekannte, verbietet ja die Rache. Dabei ist es natürlich ein Paradoxon, dass sich die Christen zu einem Gott bekennen, der der größte Rächer von allen ist. Widersetzt du dich ihm, wirst du für immer in der Hölle schmoren, eine Rache jenseits aller Dimensionen, fast ein Fall für Amnesty International, wenn du mich fragst. Und wenn …«
»Vielleicht hasste sie einfach nur?«
Aune und Harry drehten sich zu Beate um. Sie sah erschreckt zu ihnen auf, als seien ihr die Worte einfach so über die Lippen gerutscht.
»Moral«, flüsterte sie. »Lebenslust. Liebe. Und trotzdem, der Hass ist das Stärkste.«
Kapitel 47 – Meeresleuchten
Harry stand am offenen Fenster und lauschte der entfernten Krankenwagensirene, die langsam im Lärm des Stadtkessels unterging. Das Haus, das Rakel von ihrem Vater geerbt hatte, lag hoch über all dem, was dort unten in dem Gewimmel vor sich ging, das Harry durch die hohen Kiefern im Garten nur schwach erahnen konnte. Er mochte es, hier zu stehen und hinabzublicken. Auf die Bäume. Daran zu denken, wie lange sie schon dort standen, und zu spüren, wie ihn dieser Gedanke zur Ruhe kommen ließ. Und die Lichter der Stadt, die ihn an Meeresleuchten erinnerten. Er hatte das nur einmal gesehen, eines Nachts, als ihn Großvater mit dem Ruderboot mit aufs Meer genommen hatte, um am Svartholm nach Krebsen zu leuchten. Es war nur diese eine Nacht gewesen. Doch nie würde er sie vergessen. Das war eine dieser Sachen, die mit jedem Jahr, das verging, klarer und deutlicher wurden. Das war nicht bei allem so. Wie viele Nächte hatte er mit Anna verbracht, wie oft hatten sie in diesem Bett des dänischen Kapitäns die Leinen gelöst und sich treiben lassen? Er erinnerte sich nicht. Und bald würde auch der Rest vergessen sein. Traurig? Ja. Traurig und notwendig.
Trotzdem gab es zwei Augenblicke, die Annas Handschrift trugen, die er nie würde vergessen können. Zwei fast identische Bilder: ihre dichten Haare, die wie ein Fächer auf dem Kopfkissen lagen, die weit aufgerissenen Augen und eine Hand, die sich in die weißen Laken verkrallt hatte. Der Unterschied lag in der anderen Hand. In dem einen Bild waren ihre Finger mit den seinen verflochten, auf dem anderen umklammerten sie den Griff einer Pistole.
»Willst du das Fenster nicht zumachen?«, fragte Rakel hinter ihm. Sie saß mit einem Glas Rotwein in der Hand auf dem Sofa und hatte die Beine unter sich gezogen. Oleg war zufrieden ins Bett gegangen, nachdem er Harry abermals beim Tetris besiegt hatte, und Harry fürchtete, dass damit eine Ära unwiederbringlich vorüber war.
Die Nachrichten hatten nichts wirklich Neues zu berichten. Nur alte Refrains: ein Kreuzzug gen Osten, Vergeltung gen Westen. Sie hatten den Fernseher ausgemacht und stattdessen die Platte der Stone Roses aufgelegt, die Harry zu seiner Überraschung – und Freude – in ihrer Plattensammlung gefunden hatte. Jugendzeit. Das war eine Zeit gewesen, in der ihn niemand in bessere Laune hatte versetzen können als arrogante, englische Drecksblagen mit Gitarren und Attitüde. Jetzt gefielen ihm die Kings of Convenience, weil sie vorsichtig sangen und sich nur eine Spur weniger dicht anhörten als Donovan. Und Stone Roses in geringer Lautstärke. Traurig, aber wahr. Und vielleicht notwendig. Alles dreht sich irgendwie im Kreis. Er schloss das Fenster und versprach sich selbst, Oleg mit aufs Meer zu nehmen und nach Krebsen zu leuchten, sobald sich dazu die Gelegenheit bot.
»Down, down, down«, murmelten die Stone Roses durch die Lautsprecher. Rakel beugte sich vor und trank einen Schluck Wein. »Das ist eine beinahe urzeitliche Geschichte«, flüsterte sie. »Zwei Brüder, die die gleiche Frau lieben, das ist fast schon das Rezept für eine Tragödie.«
Sie wurden still, flochten die Finger ineinander und lauschten auf den Atem des anderen.
»Hast du sie geliebt?«, fragte sie.
Harry
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