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Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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auch er nun wartete? Es schrillte wütend. Harry sah auf die Uhr. Exakt sieben. Es war Beate. Aune klingelte ein paar Minuten später und kämpfte sich mit rotem Doppelkinn die Treppe nach oben. Kurzatmig grüßte er Beate, ehe sie alle drei ins Zimmer gingen.
    »Und du kannst in diesen Porträts erkennen, wer das sein soll?«, fragte Aune.
    »Arne Albu«, sagte Beate und deutete auf das Bild links. »Harry in der Mitte und Alf Gunnerud rechts.«
    »Beeindruckend«, sagte Aune.
    »Tja«, meinte Beate. »Eine Ameise kann sogar im Bau Millionen anderer Ameisengesichter unterscheiden. In Relation zu ihrem Körpergewicht ist ihr Gyrus fusiforme bedeutend größer als meiner.«
    »Ich befürchte, bei mir ist das Ding unterentwickelt«, sagte Aune. »Erkennst du etwas, Harry?«
    »Ich sehe auf jeden Fall etwas mehr als beim ersten Mal, als Anna mir die Bilder zeigte. Jetzt weiß ich, dass es drei sind, die von der da verurteilt worden sind.« Harry nickte zu der Frauenfigur, die die drei Lampen hielt. »Nemesis, die Göttin der Rache und Gerechtigkeit.«
    »Die die Römer den Griechen geklaut haben«, sagte Aune. »Sie behielten die Waage, tauschten die Peitsche mit einem Schwert aus, verbanden ihr die Augen und nannten sie Justitia.« Er trat zur Lampe. »Seit man gut sechshundert Jahre vor Christus erkannte, dass das System der Blutrache nicht funktionierte, seit man dem einzelnen Menschen die Rache nahm und zu einem öffentlichen Anliegen machte, ist diese Frau das Symbol für den modernen Rechtsstaat.« Er fuhr mit der Hand über die kalte Bronzestatue. »Die blinde Gerechtigkeit. Die kalte Rache. Unsere Zivilisation ruht in ihren Händen. Ist sie nicht schön?«
    »Wie ein elektrischer Stuhl«, sagte Harry. »Annas Rache war nicht gerade kalt.«
    »Sie war kalt und heiß«, sagte Aune. »Gleichermaßen durchdacht wie leidenschaftlich. Sie muss ein sehr emotionaler Mensch gewesen sein. Offenbar mit einem seelischen Schaden, aber den haben wir wohl alle, die Frage ist nur, wie groß er ist.«
    »Und was für ein seelisches Leiden hatte Anna?«
    »Ich habe sie ja nie getroffen, ich kann nur raten.«
    »Dann rate«, seufzte Harry.
    »Da wir uns im Bereich der antiken Götter bewegen, gehe ich mal davon aus, dass ihr schon einmal von Narcissos gehört habt, dem griechischen Gott, der sich so unsterblich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hatte, dass er sich nicht mehr davon losreißen konnte? Freud prägte den Begriff Narzissmus in der Psychologie und beschrieb damit Personen mit einem übertriebenen Gefühl, einzigartig zu sein, Personen, die von dem Traum besessen sind, grenzenlosen Erfolg zu haben. Der Wunsch nach Rache an allen, die sie gekränkt haben, überlagert bei Narzissten oft alle anderen Gefühle. Man nennt das narzisstische Wut. Der amerikanische Psychoanalytiker Heinz Kohut hat beschrieben, wie eine solche Person jede noch so kleine Kränkung mit allen Mitteln zu rächen versuchen wird. Zum Beispiel könnte eine für uns alltägliche Abweisung zur Folge haben, dass eine solche Person wie im Zwang und ohne sich selbst Ruhe zu gönnen daran arbeiten wird, das Gleichgewicht wiederherzustellen, unter Umständen bis zum Tod.«
    »Dem Tod von wem?«, fragte Harry.
    »Von allen.«
    »Das ist doch geisteskrank«, platzte Beate hervor.
    »Davon rede ich ja«, bestätigte Aune trocken.
    Sie gingen ins Esszimmer. Aune saß auf einem der alten, eckigen Stühle an dem langen, schmalen Eichentisch Probe. »Heute baut man die nicht mehr so.«
    Beate stöhnte. »Aber dass sie sich das Leben nahm, bloß um sich … zu rächen? Es müsste doch andere Wege geben.«
    »Natürlich«, sagte Aune. »Aber Selbstmord ist oft in sich bereits eine Form von Rache. Man flößt allen, die einen vermeintlich betrogen haben, Schuldgefühle ein. Anna ist bloß noch einen Schritt weiter gegangen. Außerdem haben wir guten Grund zur Annahme, dass sie wirklich nicht mehr leben wollte. Sie war einsam, von ihrer Familie verstoßen und vom Liebesleben ausgeschlossen. Ihre Karriere als Künstlerin war missglückt, und sie war zeitweise drogenabhängig, ohne dass das etwas bei ihr ausgelöst hätte. Sie war mit anderen Worten ein zutiefst enttäuschter, unglücklicher Mensch, der mit kalter Berechnung den Selbstmord wählte. Und die Rache.«
    »Ohne moralische Bedenken?«, fragte Harry.
    »Die Moral ist dabei natürlich interessant.« Aune verschränkte die Arme. »Unsere Gesellschaft verpflichtet uns schließlich zu leben und verdammt damit den

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