Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fährte

Die Fährte

Titel: Die Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
Gründe.«
    »Ich weiß«, sagte Harry. »Büßen ist ein Instinkt, mindestens ebenso stark wie die Rachelust.«
    Raskol antwortete nicht.
    »Wussten Sie, dass Beate Lønn auch eine Entscheidung gefällt hat? Sie hat verstanden, dass ihr nichts ihren Vater zurückbringen kann. Sie ist nicht mehr voller Wut. Sie bat mich, Sie zu grüßen und Ihnen zu sagen, dass sie Ihnen vergibt.« Eine Glasscherbe kratzte an Harrys Haut. Es hörte sich wie die Spitze eines Stiftes auf rauem Papier an. Mit dem zögernd die letzten Worte geschrieben wurden, bis nur noch der Punkt fehlte. Harry schluckte. »Jetzt sind Sie dran, zu entscheiden, Raskol.«
    »Was zu entscheiden, Spiuni? Ob ich Sie leben lasse?«
    Harry atmete rasch, während er versuchte, nicht in Panik zu verfallen. »Ob Sie Beate Lønn die Freiheit geben. Ob Sie ihr erzählen, was an dem Tag geschehen ist, an dem Sie ihren Vater erschossen haben. Und ob Sie sich selbst befreien wollen.«
    »Mich selbst?« Raskol lachte sein weiches Lachen.
    »Ich habe ihn gefunden«, sagte Harry. »Das heißt, Beate Lønn hat ihn gefunden.«
    »Wen gefunden?«
    »Er wohnt in Göteborg.«
    Raskols Lachen brach abrupt ab.
    »Er wohnt dort seit neunzehn Jahren«, fuhr Harry fort. »Seit er erfahren hat, wer wirklich Annas Vater ist.«
    »Sie lügen«, rief Raskol und hob die Hand mit der Flasche über den Kopf. Harry spürte seinen Mund trocken werden und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte Raskol einen glasigen Blick bekommen. Sie atmeten im Takt und ihre Brustkörbe hoben und senkten sich gegeneinander.
    Raskol flüsterte. »Und … Maria?«
    Harry musste zweimal ansetzen, ehe ihm seine Stimmbänder gehorchten. »Niemand hat von ihr gehört. Stefan ist einmal erzählt worden, sie sei vor vielen Jahren bei fahrendem Volk in der Normandie gesehen worden.«
    »Stefan? Haben Sie mit ihm gesprochen?«
    Harry nickte.
    »Und warum wollte er mit einem spiuni wie Ihnen sprechen?«
    Harry versuchte mit den Schultern zu zucken, doch sie steckten fest. »Sie können ihn ja selbst fragen …«
    »Fragen …« Raskol starrte Harry entgeistert an.
    »Simon hat ihn heute geholt. Er sitzt im Wagen nebenan. Er hat ein paar Probleme mit der Polizei, aber die Beamten haben Order, ihn in Ruhe zu lassen. Er will mit Ihnen sprechen. Der Rest ist Ihre Entscheidung.«
    Harry schob seine Hand zwischen seinen Hals und die Glasscherben. Raskol machte keine Anstalten, ihn zu hindern, als sich Harry erhob, sondern fragte bloß: »Warum haben Sie das gemacht, Spiuni?«
    Harry zuckte mit den Schultern. »Sie haben bei den Richtern in Moskau dafür gesorgt, dass Rakel Oleg behalten durfte. Ich gebe Ihnen die Chance, den Einzigen der Ihren, den es noch gibt, zu behalten.« Er nahm die Handschellen aus seiner Jackentasche und legte sie auf den Tisch. »Egal, wie Sie sich entscheiden, bin ich der Meinung, dass wir jetzt quitt sind.«
    »Quitt?«
    »Sie haben dafür gesorgt, dass die Meinen zurückgekommen sind. Ich für die Ihren.«
    »Ich höre, was Sie sagen, Harry. Aber was bedeutet das?«
    »Das bedeutet, dass ich alles sagen werde, was ich über den Mord an Arne Albu weiß. Und dass wir uns mit all unserer Kraft dafür einsetzen werden, Sie zu überführen.«
    Raskol zog die Augenbrauen hoch. »Es wäre leichter für Sie, die Sache einfach ruhen zu lassen, Spiuni. Sie wissen, dass Sie mir nichts nachweisen können, warum wollen Sie es also versuchen?«
    »Weil wir Polizisten sind«, sagte Harry, »und keine kichernden Konkubinen.«
    Raskol sah ihn lange an. Dann nickte er kurz.
    In der Tür drehte Harry sich noch einmal um. Der dünne Mann saß gebeugt über dem kleinen Kunststofftisch und die Schatten verbargen sein Gesicht.
    »Ihr habt Zeit bis Mitternacht, Raskol. Dann nehmen die Beamten Sie wieder mit.«
    Eine Krankenwagensirene schnitt sich durch das Rauschen der Finnmarksgata, hob und senkte sich, als versuchte sie, den richtigen Ton zu finden.
     

 
     
     

    Kapitel 46 – Medea
     
    Harry schob vorsichtig die Schlafzimmertür auf. Ihm war, als rieche er noch immer ihr Parfüm, doch der Duft war so schwach, dass er sich nicht sicher war, ob er aus dem Raum oder aus seiner Erinnerung kam. Das große Bett thronte wie eine römische Galeere inmitten des Raumes. Er setzte sich auf die Matratze, legte seine Finger auf das kalte, weiße Bettzeug, schloss die Augen und spürte es unter sich wogen. Lange, langsame Wellen. War es hier gewesen, wo Anna an jenem Abend auf ihn gewartet hatte – so wie

Weitere Kostenlose Bücher