Die Fährte
konnte. Und in einem seiner klaren Momente hatte er sich entschlossen, sie nicht mit sich in den Abgrund zu ziehen. Sie hatte ihn in ihrer fremden Sprache verflucht und ihm geschworen, eines Tages das Gleiche mit ihm zu tun: ihm die Einzige zu nehmen, die er liebte.
Das war vor sieben Jahren gewesen und das Ganze hatte nur sechs Wochen gedauert. Danach hatte er sie nur noch zweimal gesehen. Einmal in einer Bar, in der sie mit Tränen in den Augen zu ihm gekommen war und ihn gebeten hatte, zu verschwinden, was er dann auch getan hatte, und das andere Mal in einer Ausstellung, auf die Harry seine kleine Schwester Søs mitgenommen hatte. Er hatte versprochen, sie anzurufen, was er aber nicht getan hatte.
Harry drehte sich erneut zum Wecker. 3.32 Uhr. Er hatte sie geküsst. Jetzt, an diesem Abend. Als er in Sicherheit war und draußen vor ihrer Wohnungstür mit den rauen Glasscheiben stand, hatte er sich zu ihr gebeugt, um sie in den Arm zu nehmen und ihr eine Gute Nacht zu wünschen, doch daraus war ein Kuss geworden. Einfach und gut. Einfach auf jeden Fall. 3.33 Uhr. Scheiße, wann war er nur so sentimental geworden, dass er ein schlechtes Gewissen bekam, bloß weil er einer alten Flamme einen Kuss gegeben hatte? Harry versuchte tief und gleichmäßig zu atmen und an mögliche Fluchtrouten vom Bogstadvei über die Industrigata zu denken. Hin und her. Und wieder in die Industrigata hinein. Noch immer hatte er ihren Geruch in der Nase. Die süße Schwere ihres Körpers. Die raue, eindringliche Sprache ihres Zungenmuskels.
Kapitel 6 – Chili
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages huschten über den Rand des Ekeberg, unter den halb zugezogenen Vorhängen des Sitzungszimmers im Dezernat für Gewaltverbrechen hindurch und verfingen sich in den Fältchen um Harrys zugekniffene Augen. Am Ende des langen Tisches stand breitbeinig Rune Ivarsson und wippte, die Hände auf dem Rücken, auf seinen Zehen auf und ab. Hinter ihm stand ein Flip-Chart, auf dem mit großen roten Buchstaben WILLKOMMEN stand. Harry rechnete damit, dass Ivarsson das auf irgendeinem Präsentationsseminar aufgeschnappt hatte, und versuchte halbherzig, sein Gähnen zu unterdrücken, als der Abteilungschef zu reden begann.
»Guten Morgen, alle zusammen. Wir acht, die wir hier sitzen, bilden die Kommission, die den Überfall auf die Bank im Bogstadvei letzten Freitag untersucht.«
»Das Tötungsdelikt«, murmelte Harry.
»Wie bitte?«
Harry richtete sich ein ganz klein wenig auf. Die verdammte Sonne blendete ihn, wie er auch zu sitzen versuchte. »Es ist wohl richtig, davon auszugehen, dass wir es hier mit einem Tötungsdelikt zu tun haben, und die Nachforschungen dementsprechend ausrichten.«
Ivarsson verzog seinen Mund zu einem Lächeln. Es galt nicht Harry, sondern den anderen am Tisch, über die er seinen Blick schweifen ließ. »Ich dachte, ich sollte vielleicht damit beginnen, sie einander vorzustellen, doch unser Freund vom Dezernat für Gewaltverbrechen hat ja schon den Anfang gemacht. Hauptkommissar Harry Hole ist uns gnädigst von seinem Chef Bjarne Møller zur Seite gestellt worden, weil seine Spezialität Morde sind.«
»Tötungsdelikte«, sagte Harry.
»Na gut. Zu seiner Linken sitzt Weber von der Kriminaltechnik, der die Spurensicherung vor Ort leitete. Weber ist, wie die meisten von ihnen wissen, unser erfahrenster Mann in der Spurensicherung. Bekannt für seine analytischen Fähigkeiten und seine treffsichere Intuition. Der Polizeipräsident hat einmal gesagt, dass er Weber gerne als Hund bei der Jagd in Trysil dabeihätte.«
Gelächter am Tisch. Harry brauchte Weber nicht anzusehen, um zu wissen, dass er nicht lachte. Weber lächelte fast nie, auf jeden Fall nicht bei jemandem, den er nicht mochte, und er mochte beinahe niemanden. Und ganz sicher keinen der jüngeren Führungsriege, für ihn waren das alles nur inkompetente Emporkömmlinge ohne Gefühl für die Sache und ihre Einheit, die aber stattdessen über ein übersteigertes Gefühl für ihre bürokratische Macht und den Einfluss verfügten, den sie durch einen kurzen Gastaufenthalt im Polizeipräsidium bekamen.
Ivarsson lächelte und wippte zufrieden auf und ab wie ein Skipper bei Seegang, während er darauf wartete, dass die Anwesenden zu lachen aufhörten.
»Beate Lønn ist ein neues Gesicht in unserer Runde. Sie ist unsere Spezialistin für Videoanalyse.«
Beate wurde puterrot.
»Beate ist die Tochter von Jörgen Lønn, der mehr als zwanzig Jahre im
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