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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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gedankenverloren das von einem Baum hinabrieselnde Laub. Für einen Moment schwieg er und sein Blick verschleierte sich.
    »Die Blätter fallen«, bemerkte er schwermütig. »Früher habe ich mir darüber nie Gedanken gemacht. Es gehörte für mich schlicht zum Herbst. Doch nun …«
    Er brach mitten im Satz ab. Für einen Moment sah er mit verschleiertem Blick traurig ins Leere, dann wandte er sich Pfeyfer zu. Seine Miene war plötzlich sorgenschwer und zerfurcht, als zeichnete sich in seinem Gesicht mit einem Mal die ganze Last ab, die er zu tragen hatte. »Major, ich möchte Ihre Meinung hören«, bat er ernst. »Sie sind keiner der Männer meiner Umgebung, deren Äußerungen mir gegenüber auf die eine oder andere Weise stets von Kalkül bestimmt sind. Sagen Sie mir ganz offen, was Sie denken. Wie wird dieser Krieg enden?«
    Auf diese Frage war Pfeyfer nicht gefasst gewesen. Er hatte sich natürlich schon häufig und eingehend mit dem Verlauf des Krieges zwischen der Union und den abtrünnigen Südstaaten befasst und sich durchaus seine Ansicht gebildet. Aber nun wusste er nicht, was er antworten sollte. Hatte er überhaupt das Recht, seine eigene Meinung zu einem derart gewichtigen Thema preiszugeben? Die Versuchung war groß, Ausflüchte zu suchen oder schlichtweg höflich zu lügen und zu versichern, dass der Norden unzweifelhaft schon bald siegen würde. Dann aber gewann der Offizier in Pfeyfer die Oberhand. Vor seinem inneren Auge erschienen die Karten mit den Bewegungen der gegnerischen Armeen, den von jeder Seite kontrollierten Gebieten, Flüssen, Festungen und Eisenbahnstrecken. Er sah vor sich die Tabellen, in denen die Gesamtstärken der Heere, Armeen und Korps ebenso aufgelistet waren wie die Zahlen der Toten und Verwundeten bei den gewaltigen Schlachten. Und er wusste um die ewigen, unverrückbaren Gesetzmäßigkeiten des Krieges. Aus alledem hatte er schon lange Schlussfolgerungen gezogen.
    »Das lässt sich unmöglich sagen, Exzellenz«, befand er, jedes seiner Worte sorgfältig abwägend. »Der weitere Verlauf, die Dauer und der Ausgang des Krieges sind nach meinem Dafürhalten völlig offen. Jedoch …«
    Er zögerte und vergewisserte sich noch einmal, dass sich in Lincolns Miene der unbedingte Wunsch nach Ehrlichkeit spiegelte. Dann fuhr er fort: »Exzellenz, die Aussichten der Union für eine schnelle, siegreiche Beendigung des Krieges sind nicht gut. Um zu bestehen, braucht der Süden nichts zu erobern. Es reicht, wenn er sich gegen alle Versuche, ihn zu unterwerfen, erfolgreich zur Wehr setzt. Sicher, vieles steht zu Ungunsten der Insurgenten. Sie haben weniger Soldaten zur Verfügung, keine nennenswerte Industrie, ein schlechtes Eisenbahnwesen. Und was besonders schwer wiegt, sie können wegen der Blockade ihrer Häfen kaum Nachschub an Kriegsmaterial aus Europa beziehen.«
    Lincoln nickte. »Auf diese Umstände verweisen meine hauseigenen Optimisten, die den Süden seit Monaten kurz vor dem unmittelbar bevorstehenden Kollaps sehen, sehr gerne.«
    »Diese Leute, Exzellenz, bedenken nicht, dass der Süden durch den Vorteil der Defensive begünstigt wird. Eine militärische Faustregel besagt, dass ein Verteidiger fünf Angreifer aufwiegen kann. In diesem Krieg aber fällt das Verhältnis bestimmt noch deutlicher zugunsten der Rebellen aus. Sie glauben, ihre Heimat, ihre Lebensgewohnheiten und ihre Rechte zu beschützen. Darüber hinaus verfügen sie über die fähigeren Heerführer, die mit ihren begrenzten Mitteln meisterhaft umzugehen wissen. Die wenigen, teuer erkauften Siege der Union hingegen verpuffen ungenutzt, wie kürzlich bei Antietam. Wenn sich an alledem nichts ändert, Exzellenz, wird es noch lange dauern, die Aufständischen wieder zur Botmäßigkeit zu zwingen.«
    Lincoln schwieg kurz. Dann fuhr er sich mit der Hand über den dunklen Bart und meinte nachdenklich: »Die Unauflöslichkeit der Union ist ein Prinzip. Aber wie viele Opfer kann man einer Nation für ein Prinzip abverlangen?«
    »Exzellenz, ich fürchte, auf eine solche Frage habe ich keine Antwort.«
    »Oh nein, das war an mich selbst gerichtet«, sagte Lincoln. »Ein Gedankengang, weiter nichts. Ich danke Ihnen für Ihre offene Einschätzung der Lage. Es tut gut, gelegentlich auch mal aufrichtige Äußerungen zu hören.«
    Pfeyfer versicherte, dass es ihm eine Ehre gewesen sei. Gerne hätte er Lincoln auch einige Fragen gestellt, die ihn sehr beschäftigten. So etwa, weshalb der Präsident nicht die machtvollste Karte

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