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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Hautfarben, von nordeuropäischer Blässe bis zum finstersten Schwarz, gingen ihren Tätigkeiten nach. Das fremdartige Gemenge von Menschen, die von ihrer Verschiedenheit nicht einmal Notiz zu nehmen schienen, fesselte und beängstigte Amalie gleichermaßen. Dieses vielgestaltige Gemisch menschlicher Rassen entsprach eher dem Bild, das sie von einem nordafrikanischen Basar hatte.
Befinde ich mich überhaupt noch in Preußen?,
fragte sie sich verunsichert.
    Ihre aufkeimenden Zweifel zerstoben gleich darauf; die Droschke musste an einer Straßenkreuzung halten und einer Abteilung Soldaten Vorrang gewähren. Die Kutscher lenkten ihre Fuhrwerke an die Straßenränder, um Platz zu machen, doch ansonsten ließ sich niemand in seinen Verrichtungen stören, als die Kompanie unter den Klängen von Trommeln und schrill trillernden Querflöten in präzisem Gleichschritt vorübermarschierte. Die Soldaten trugen die grünen Waffenröcke der Jäger, an ihren Tschakos glänzten Gardesterne aus blank poliertem Messing. Mochten ihre Gesichter auch ungewohnt aussehen, alles andere an ihnen war Amalie sofort vertraut.
    Sie atmete erleichtert auf. Jetzt wusste sie ganz genau, dass sie auf einem fremden Kontinent, aber nicht in einem fremden Land angelangt war. Sie würde sich zurechtfinden.
     
    * * *
     
    »Selbstverständlich sind wir hocherfreut, Sie bei uns willkommen heißen zu dürfen«, beteuerte Rebekka Heinrich, die Direktorin der Karolinischen Höheren Töchterschule, und schenkte zunächst Amalie eine Tasse Kaffee ein. »Doch um ganz offen zu sein … wir hatten nicht damit gerechnet, dass uns das Ministerium eine neue Lehrerin schicken würde.«
    Zwischen Magnolienbäumen und makellos gepflegten Blumenrabatten saßen sie zu dritt um einen kleinen Tisch. Amalie sah sich nicht nur der braunhäutigen Direktorin gegenüber, die sehr liebenswürdig war, aber deren Haltung und Stimme jederzeit deutlich einen willensstarken Charakter offenbarten; auch eine der Oberlehrerinnen namens Carmen Dallmeyer war anwesend. Etwa einen Zoll kleiner als Rebekka Heinrich, was auch die mit beträchtlichem Aufwand modisch hoch aufgetürmte Frisur nicht kaschieren konnte, bewahrte ihre sympathische und offene Art sie davor, neben ihrer mit jedem Wort und jeder Geste Selbstbewusstsein verkörpernden Direktorin in Unauffälligkeit zu versinken.
    Sie befanden sich in dem Garten, der sich an den Südflügel des Schulgebäudes anschloss. Der Wohntrakt des Lehrerinnenkollegiums hätte gut als Abschirmung gegen Straßenlärm dienen können; nur existierte etwas derartig Vulgäres wie Lärm in der Charlottenvorstadt überhaupt nicht. Die Schule befand sich inmitten gediegener Villen von zurückhaltender Eleganz und nahm sich dort mit ihren drei Stockwerke hohen Mauern aus nackten dunkelroten Ziegeln wie ein sperriger Fremdkörper aus. Eine eigentümliche Mischung aus bodenständiger Kargheit, staubtrockenem Ernst und bedrückender Strenge, verdichtet zur steingewordenen Versinnbildlichung protestantischen Pflichtgefühls, zeichnete fast jedes vom preußischen Staat errichtete Bauwerk aus, mochte es nun eine Kaserne, ein Telegraphenamt oder halt eine Lehranstalt sein. Der Kontrast zwischen der Töchterschule und ihrer Umgebung hätte stärker kaum sein können.
    Amalie war angekommen, als die Direktorin und die Oberlehrerin gerade zum Nachmittagskaffee im Freien Platz genommen hatten, und ohne Umschweife eingeladen worden, sich zu ihnen zu setzen. So war die Vorstellung bei ihrer neuen Vorgesetzten recht formlos verlaufen. Die ungezwungene Atmosphäre befremdete Amalie ein wenig; an preußischen Schulen herrschte normalerweise zwischen den Lehrern der unterschiedlichen Amtsränge eine ausgeprägte hierarchische Distanz. Dass Rebekka Heinrich eine Mulattin war, deren afrikanischer Anteil ihrer Herkunft sehr deutlich in Erscheinung trat, trug noch zu Amalies Verunsicherung bei. Sie hatte ständig Angst, ihre Vorgesetzte, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit ungebührlicher Neugier anzustarren.
    »Ich möchte dennoch der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass ich trotz meiner unerwarteten Ankunft Frau Direktorin meine Befähigung recht bald unter Beweis stellen kann. Wenn Frau Direktorin mir eine Klasse zum Unterricht zuteilen wollen, könnte ich meinen Dienst schon morgen antreten«, versicherte Amalie betont respektvoll.
    »Man hat es Ihnen also vorher nicht mitgeteilt?«, rutschte es Carmen Dallmeyer mit ungläubigem Erstaunen vorschnell heraus, noch bevor die

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