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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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der Union ausspielte, die völlige Aufhebung der Sklaverei. Wieso unternahm er nicht diesen Schritt, der den Krieg augenblicklich von einer simplen Auseinandersetzung um den Erhalt eines Staatenbundes zum Kampf für eine höhere Sache erhoben hätte? Eine Sache, die der Union doch unantastbare moralische Überlegenheit verliehen und ein für alle Mal die Gefahr gebannt hätte, dass eine europäische Macht zugunsten des Südens intervenieren könnte. Warum nur gab er sich mit seltsamen Halbherzigkeiten zufrieden wie der Befreiung der Sklaven in den aufständischen Gebieten, die ja völlig wirkungslos bleiben musste? Diese und manch andere Fragen brannten Pfeyfer auf der Zunge. Aber er behielt sie für sich. Ihm stand nicht zu, von einem Staatsoberhaupt Auskunft zu erbitten.
    »Die Zukunft birgt Gefahren von unabsehbarem Ausmaß«, resümierte der Präsident sorgenvoll. »Für mein Land, weil die Fundamente, auf denen es errichtet wurde, zerschmettert zu werden drohen. Aber auch für Ihr Land. Eine siegreiche Konföderation könnte das Fortbestehen Karolinas nicht dulden, sie würde als Nächstes über Ihre Provinz herfallen. So wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe über eine Schafherde. Beten Sie, dass der Jäger die Wölfe vorher erlegen kann.«
    »Jawohl, Exzellenz«, entgegnete Pfeyfer, als hätte er den Befehl eines Vorgesetzten entgegengenommen. Insgeheim aber bezweifelte er, dass der Präsident mit seiner Warnung vor den Absichten des Südens richtiglag. Eine zivilisierte Nation fiel nicht mitten im Frieden grundlos über eine andere her. Immerhin war dies das Jahr 1862, nicht mehr die Zeit des Räuberfürsten Napoleon.
    »Sehen Sie, da ist schon Ihre Kutsche«, bemerkte Lincoln, als ein leichter Zweispänner, von einem Paar Grauschimmeln gezogen, vor dem halbrunden Portikus des Weißen Hauses zum Stehen kam. »Ich bin sicher, Sie werden diese Art der Fortbewegung erheblich angenehmer finden als einen langen Fußmarsch durch die nahezu sumpfartigen Straßen Washingtons.«
    »Ich bin Exzellenz zu großem Dank verpflichtet«, beteuerte Pfeyfer und schlug die Hacken zusammen.
    »Ich bin es, der zu danken hat«, entgegnete der Präsident. »Einen ehrlichen Mann in diesem Haus anzutreffen, ist nämlich ein ebenso erfrischendes wie seltenes Vergnügen.«
     
    * * *
     
    Amalie lehnte sich weit aus dem Fenster der Droschke, um sich möglichst keinen der unzähligen neuen Eindrücke entgehen zu lassen. Momentan allerdings gab es vergleichsweise wenig zu sehen, denn die Kutsche stand auf der Benedikt-Arnold-Brücke und musste zusammen mit Dutzenden weiterer Fuhrwerke und Fußgänger vor einer Absperrkette warten. Die über 1400 Fuß lange Brücke aus filigranem Eisenfachwerk, ein auf einundzwanzig steinernen Pfeilern ruhendes Wunder der Technik, auf dem sowohl die asphaltierte Chaussee als auch das Gleis der Karolinischen Südbahn den Königin-Luise-Fluss überquerten, hatte sich nämlich geöffnet, um ein Dampfschiff passieren zu lassen. Der Mittelteil der Brücke war beweglich auf seinem Pfeiler gelagert und war wie eine gewaltige Drehtür um seine eigene Achse aufgeschwenkt, damit das aus dem Landesinneren kommende Schiff in die Bucht gelangen konnte. Nie zuvor hatte Amalie ein so erstaunliches Bauwerk gesehen.
    Noch großartiger allerdings war der Anblick, der sich am gegenüberliegenden Ufer bot. Dort leuchtete im nachmittäglichen Sonnenschein das Meer der gleißend weißen Bauten Friedrichsburgs. Die Hauptstadt der Provinz Karolina, oder jedenfalls ihr ältester und bedeutendster Teil, erhob sich auf der Landzunge zwischen dem Königin-Luise-von-Preußen-Fluss und dem Cooper. Die beiden Ströme trafen hier kurz vor der Meeresküste zusammen und bildeten eine ausgedehnte und gut geschützte Bucht, an deren Südufer jüngst großzügige Hafenanlagen entstanden waren. Dort hatte Amalie zwei Stunden zuvor die
Suebia
verlassen und sogleich auf recht peinliche Weise erste Bekanntschaft mit den Besonderheiten Karolinas gemacht. Da sie nicht wusste, wie sie sich eine Droschke besorgen konnte, hatte sie einen Schutzmann angesprochen, der unweit der Gangway mit dem Rücken zu ihr stand. Als er sich dann umdrehte und sich zuvorkommend nach ihren Wünschen erkundigte, war Amalie unwillkürlich mit einem erschrockenen Kreischen zusammengezuckt: Ein kohlenschwarzes Gesicht, aus dem Augen und Zähne grellweiß hervorstachen, hatte sie angeblickt.
    Zwar hatte sie sich schnell wieder einigermaßen gefangen, aber der Schreck steckte

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