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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Direktorin etwas erwidern konnte.
    »Ich verstehe nicht … Was hat man mir nicht mitgeteilt?«
    »Dass uns keine einzige Schülerin verblieben ist«, antwortete die Direktorin. »Die Schule steht leer, und das bereits seit über einem Jahr.«
    Diese Eröffnung traf Amalie so unvorbereitet, dass sie zunächst zu keiner Reaktion fähig war. Sprachlos starrte sie im Wechsel die beiden Frauen an.
    »Sehen Sie«, begann die Oberlehrerin nach kurzem Zögern, »diese Schule war von Anfang an ausschließlich als Internat für Töchter aus amerikanischen Elternhäusern gedacht. Das preußische Bildungswesen genießt einen exzellenten Ruf in den Vereinigten Staaten. Wohlhabende Familien aus dem Norden schickten ihre Kinder oftmals nach Karolina. Eigens für die Knaben wurden drei Gymnasien errichtet. Weil die Nachfrage nach einer vergleichbaren Einrichtung für Mädchen groß war, kam vor sieben Jahren noch unsere Schule hinzu, nachdem das Ministerium gewisse Vorbehalte überwunden hatte.« Sie machte eine kurze Pause, da Amalie zu einer Zwischenfrage ansetzte; doch nur ein angespanntes Schweigen folgte. »Nun, wie Ihnen bekannt ist, spalteten sich im vergangenen Jahr die südlichen Gebiete von den Vereinigten Staaten ab«, fuhr die Oberlehrerin fort. »Als der Krieg sich unvermeidlich ankündigte, holten alle Eltern ihre Kinder zurück. Unsere Provinz ist ja zu Lande umschlossen von Rebellenstaaten, und das erschien ihnen zu gefährlich. Seitdem sind wir bedauerlicherweise ohne Aufgabe.«
    »Ich hätte es nicht besser zusammenfassen können, Carmen«, meinte die Direktorin bestätigend und wandte sich dann wieder an Amalie: »Jetzt verstehen Sie sicher, weshalb Ihr Erscheinen so überraschend für uns war. Wir können uns nicht erklären, was das Ministerium bewogen hat, uns eine zusätzliche Lehrerin zu schicken, wo doch schon die vorhandenen keine Beschäftigung haben. Aber letztlich steht es uns auch nicht zu, die Entscheidungen unseres Dienstherrn in Frage zu stellen, nicht wahr?«
    Entgeistert suchte Amalie nach Worten; sie benötigte einige Anläufe, bevor sie endlich einen Satz beginnen konnte. »Das … das ist ja furchtbar! Ich kann doch nicht einfach zurückfahren.«
    »Zurückfahren? Aber kein Gedanke daran!« Die Direktorin schüttelte entschlossen den Kopf. »Das Ministerium hat Sie ja ordnungsgemäß an diese Schule versetzt. Folglich wird das Provinzial-Schulkollegium Ihr Gehalt ebenso auszahlen wie unseres. Dass es in der Ihnen zugewiesenen Stellung keine Arbeit für Sie gibt, ist dabei ganz ohne Belang. Wir stehen schließlich im Staatsdienst.«
    »Sie haben natürlich recht … nehme ich an«, sagte Amalie mit zweifelndem Unterton. »Und was raten Sie mir nun zu tun?«
    »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Folgen Sie einfach unserem Beispiel und betrachten Sie diese seltsame Situation als einen vom Fiskus großzügig bezahlten Urlaub. Irgendwann werden wir hoffentlich wieder Schülerinnen bekommen, und bis dahin haben Sie reichlich Muße, Ihre neue Heimat ausgiebig kennenzulernen. Beginnen wir doch gleich morgen damit. Nachdem wir Ihre Versetzungsdokumente dem Herrn Oberpräsidenten zur Beglaubigung vorgelegt haben, begleiten Sie mich und ich zeige Ihnen unsere Stadt.«
    »Ganz wie Frau Direktorin wünschen«, bestätigte Amalie pflichtgemäß, die sich nach dem ersten Schrecken nun wieder gefangen hatte.
    »Ach, nicht doch! Diese Förmlichkeit dürfen Sie unbesorgt ablegen. Hier pflegen wir uns mit Vornamen anzureden, meine Teuerste. Einen Biscuit? Die mit Kokosglasur sind besonders zu empfehlen.«

21. Oktober
    Alvin H. Healey ließ den Blick durch das Büro wandern. Die Einrichtung war nicht nur spartanisch, sondern auch ausgesprochen armselig. Außer einem schweren Schreibtisch, angestoßen und verschrammt, gab es einige Stühle von zweifelhafter Stabilität, von denen keiner dem anderen glich, sowie zwei Schränke mit einem ebenso dick wie nachlässig aufgetragenen schimmelgrünen Anstrich, der wohl die ärgsten Gebrauchsspuren kaschieren sollte, dabei aber völlig versagte. Jedes dieser Möbelstücke hatte schon bessere Tage gesehen, und die waren lange her. Das gelbliche Weiß der Wände wurde an mehreren Stellen von ausladend verästelten Rissen unterbrochen. Ein Kalender, eine eindeutig schon vor geraumer Zeit um kurz vor fünf stehen gebliebene Uhr und eine großformatige Karte der Konföderierten Staaten stellten die einzige Dekoration der ansonsten kahlen Wände dar. Das Licht der tief

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