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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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legte. Täubrich gab sich unbeschwert und hoffte, dass ihm diese Täuschung überzeugend gelang. Sein Leben hing davon ab, dass er sich nicht durch Nervosität verdächtig machte. »Und wie ist ihr sonstiges Befinden heute, Captain?«
    »Verdammt miserabel. Wie immer«, knurrte Hendricks beißend; beim Sprechen strömten die Silben pfeifend durch seinen offen klaffenden Mundwinkel. Er stemmte sich mit seinem einzigen Arm aus dem Sessel empor. Täubrich streckte die Hand aus, um ihm behilflich zu sein; doch das trug ihm einen finsteren Blick ein, der ihn auf der Stelle zurückzucken ließ. Ohne Unterstützung kam Hendricks auf seinem verbliebenen Bein und der hölzernen Prothese zu stehen.
    Unwillkürlich wich Täubrich ein wenig zurück. Der Kapitän jagte ihm Furcht ein. Dabei waren es nicht die Äußerlichkeiten, die ihn erschaudern ließen; nicht das zur Hälfte zerstörte Gesicht oder der grauenvoll verstümmelte Leib. Er hatte Angst vor dem, was in Hendricks wirkte.
    Die Chirurgen hatten sein Leben retten können, doch was hatte ihn danach am Leben gehalten? Was hatte ihn die unermesslichen Schmerzen ertragen lassen, die durch keine Droge der Welt jemals völlig betäubt werden konnten? Gefangen in einem Wrack von Körper, heimgesucht von nie endenden Torturen, hätte wohl fast jeder Mensch den Lebenswillen verlieren und den Tod inständig herbeiflehen müssen, bis er tatsächlich kam und Erlösung brachte. Nicht jedoch Hendricks. Vom Tag der Abfahrt aus Friedrichsburg an hatte Täubrich sich verwundert gefragt, woher der Kapitän die Kraft zum Weiterleben nahm. Inzwischen hatte er ihn gut genug kennengelernt, um die Antwort zu wissen: Allein der Hass hielt Hendricks am Leben. In Hendricks loderte unsagbarer Hass auf diejenigen, denen er die Schuld an seinem Zustand gab. Und damit meinte er sämtliche Nordstaatler ohne Unterschied. Er versuchte nicht einmal, das zu bemänteln. Unverblümt hatte er Täubrich gegenüber erwähnt, er würde jeden Einzelnen von ihnen eigenhändig erschießen, wenn er könnte.
Alle Männer, Frauen, Kinder, Hunde und Nigger, Sir. Das ist das Mindeste, was mein Arm, mein Bein, mein Gesicht und unzählige Nächte unter Höllenqualen und minderwertigem Morphium wert sind.
    Eine der vielen Fragen, die Täubrich bewegten, war damit jedenfalls geklärt. Er verstand nun, weshalb Hendricks das Kommando über die
Leviathan
erhalten hatte. Einen fanatischeren Kämpfer für die Sache des Südens gab es auf allen Weltmeeren nicht. Seine Auftraggeber konnten sich darauf verlassen, dass er Übermenschliches leisten würde, um mit diesem Schiff dem Norden Schaden zuzufügen.
    Der Arzt richtete dem Kapitän den Ärmel, ständig angestrengt um den Anschein von Gelassenheit bemüht. »Wir kommen gut voran, will mir scheinen«, meinte er. »Ich habe vorhin Möwen beobachtet. Demnach nähern wir uns der Küste?«
    Hendricks nickte. »Man merkt, dass Sie sich auskennen, Doktor. Ja, morgen Abend wird Cornwall in Sicht kommen. Und noch mal zwei Tage darauf erreichen wir Hamburg.«
    »Und wie lange werden wir dort im Hafen liegen?«
    »Das hat Sie nicht zu interessieren!«, brauste der Kapitän unwirsch auf. »Kümmern Sie sich ausschließlich um die Gesundheit an Bord, nichts anderes!«
    »Ich bitte um Verzeihung, Captain. Es ist nur – ich möchte in Hamburg einigen bekannten Medizinern Besuche abstatten und mich nach verschiedenen schwer erhältlichen Büchern umsehen, was ein wenig Zeit in Anspruch nehmen dürfte«, versuchte Täubrich die Scharte wieder auszuwetzen. Er durfte nicht zulassen, dass der Kapitän misstrauisch wurde.
    Die Erklärung erfüllte ihren Zweck, Hendricks beruhigte sich wieder. Er schnaubte knapp durch die beiden unregelmäßigen Löcher, die von seiner Nase noch übrig waren. »So? Na gut, dazu werden Sie etwa zwei Wochen haben. Und jetzt lassen Sie mich in Frieden, ich muss den Kurs berechnen.«
    Täubrich verstaute das Morphiumfläschchen sowie sein Injektionsbesteck rasch in der voluminösen Doktortasche und erinnerte den Kapitän daran, ihn umgehend zu benachrichtigen, sollte sich ein Unwohlsein einstellen. Dann verließ er die Kabine.
    Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen und stand alleine auf dem von Gaslicht schummrig erhellten Korridor, da atmete er auf. Jede neue Begegnung mit Hendricks setzte ihm stärker zu. Von dem Kapitän ging etwas aus, was sich weder in Worte fassen noch mit dem Verstand begreifen ließ, eine dämonische Aura des Horrors. Seine

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