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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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wieder der Festung zuwenden; doch er fürchtete, nochmals von schmerzlichen Erinnerungen übermannt zu werden. Mit gesenktem Kopf, die Augen auf die Decksplanken unter seinen Füßen gerichtet, begab er sich zum nächstliegenden Treppenaufgang und stieg hinab ins Innere des Schiffes.
     
    * * *
     
    Gleich ist es so weit!
    Pfeyfer hielt den Blick fest auf den Bug der Leviathan gerichtet. Sie war nun ganz nah, direkt vor der Festung. Nur noch Sekunden, dann erreichte sie die Boje.
    Am ganzen Leib spürte Pfeyfer die Aufregung. Das Hemd unter der Uniform klebte von kaltem Schweiß durchtränkt an seinem Oberkörper, sein Herz schlug so heftig, als wollte es den Brustkorb sprengen. Aber seine Hand war ruhig. Und gleich würde er sie vorschnellen lassen, die Leine greifen und das Monstrum mit einem Ruck zur Strecke bringen. Gleich.
    Noch knapp hundert Fuß trennten den Bug von der Boje. Sechzig Fuß. Dreißig. Zehn.
    Pfeyfers Hand zuckte vor.
    »Herr Major! Georg ist an Bord!«
    Die Stimme ließ ihn zusammenfahren. Konnte das wirklich sein? Er fuhr unwillkürlich herum und sah wie vor den Kopf geschlagen, dass es tatsächlich Amalie von Rheine war. Sie kam die Treppe heraufgestürzt, von panischer Angst gezeichnet.
    »Georg ist auf dem Schiff!«, schrie sie ihm zu. »Hören Sie doch, Georg ist an Bord!«
    Pfeyfer spürte, wie sein Puls für einen Moment aussetzte. Noch bevor sein Verstand die Bedeutung der Worte wirklich begriff, reagierte sein Körper. Sein Arm verfiel in plötzliche Starre; nur noch einen Zoll waren seine Finger von der Leine entfernt, als die Hand mitten in der Bewegung einfror.
    Aufgelöst rannte Amalie auf ihn zu. »Georg … Georg ist da an Bord«, keuchte sie mit letzter Kraft und völlig außer Atem nochmals, als sie vor ihm stand.
    »Um Gottes …«, entfuhr es dem Major. Er sah hinüber zu dem vorbeifahrenden Schiff, dann wieder auf die bleiche Amalie, die erschöpft wankte, sich aber tapfer aufrecht hielt. Ihm wurde schwindlig.
    Pfeyfer tastete unauffällig nach dem Geschützrohr, um sich abstützen zu können, falls seine Beine nachgaben. Er schluckte mehrmals kräftig, dann wandte er sich an die ratlos dreinblickenden Artilleristen.
    »Exerzieren beendet«, keuchte er gepresst. »Lassen Sie das Geschütz wieder entladen.«
     
    * * *
     
    Kolowrath setzte das Fernglas ab. Die
Leviathan
hatte die Bastion Derfflinger passiert und fuhr nun zwischen den Landzungen am Ende der Bucht hindurch auf das offene Meer hinaus. Sobald der Lotse von Bord gegangen war, würde sie Volldampf aufnehmen. Doch das brauchte der Österreicher nicht mehr zu beobachten. Ihm genügte vollauf, das Schiff auf See zu wissen.
    Die Menge auf dem Quai begann sich zu zerstreuen. Auch Kolowrath verstaute das Fernglas im Futteral und rüstete sich zum Aufbruch. Wichtige Aufgaben warteten auf ihn. Nachdem nun der erste Schritt getan war, musste er mit größter Umsicht für das Gelingen der zweiten, durchaus komplizierteren Partie Sorge tragen.
    Er winkte die Droschke heran, die er gegen ein großzügiges Trinkgeld zwei Stunden nahebei hatte warten lassen. Während die Kutsche herbeikam, wandte er sich noch einmal um. Die Rauchfahne der
Leviathan
hing weithin sichtbar am klaren Himmel; das Schiff selbst hingegen war zu einem schwarzen Fleck vor dem fernen Horizont geschrumpft.
    Höchst zufrieden mit der Zwischenbilanz seiner brillanten Planungen stieg Oberst Kolowrath in die Droschke. Alles war makellos glatt abgelaufen. Aber wer hätte das auch schon verhindern können?

4. Januar
    Alvin Healey ging die Charlottenstraße nordwärts. Sein Schritt war leicht und beschwingt; gelegentlich vollführte er einen übermütigen kleinen Hüpfer. Er fühlte sich prächtig. In der Hand hielt er einen in Seidenpapier gehüllten üppigen Blumenstrauß. Der ungünstigen Jahreszeit wegen hatte er für dieses Bouquet aus dem Gewächshaus einen horrenden Preis entrichten müssen, doch das kümmerte ihn nicht. Ja, er hätte statt einiger Silbergroschen auch, ohne mit der Wimper zu zucken, einen oder zwei Thaler bezahlt. Nun kam es nur noch darauf an, dass er Amalie von Rheine diesen Strauß verehrte, ohne sich in verschüchtertes Stammeln zu verstricken und wie ein gehemmter Dorftrottel dazustehen. Aber er war guten Mutes, auch diese einzige verbliebene Hürde beherzt zu nehmen.
    Er machte einen Satz, sprang behände über ein paar Pferdeäpfel hinweg und jauchzte aufgekratzt. Dies war sein Tag, er fühlte es in jeder Faser seines

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