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Die Fahrt des Leviathan

Die Fahrt des Leviathan

Titel: Die Fahrt des Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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schlimmsten schien es dabei Amalie von Rheine zu ergehen, deren gerötete Augen eilig getrocknete Tränen verrieten. Healey begriff, dass die Trennung von Georg Täubrich sie sehr viel tiefer getroffen haben musste, als er glaubte. Ihr jetzt Liebesschwüre zu Füßen zu legen, fürchtete er, hätte sie vielleicht aufgewühlt und erzürnt. Sobald ihm das klar wurde, schwand Healeys Zuversicht dahin. Er fühlte sich deplatziert.
    »Mein lieber Alvin! Es ist schön, Sie zu sehen«, begrüßte ihn die Direktorin. »Was verschafft uns das Vergnügen Ihres Besuches?«
    Healey deutete eine Verbeugung an und suchte hastig nach einer plausiblen Erklärung, wobei er wiederholt mit seinen Worten ins Stolpern geriet: »Ich – Fräulein Rebekka, Fräulein Amalie, Herr Major – es ist … diese Blumen, ich – ich wollte Ihnen nochmals für die … die Einladung zu Ihrer Silvesterfeier danken.« Er übergab den Strauß der Direktorin so überstürzt, als wollte er ihn möglichst schnell loswerden, weil er in seiner Hand brannte.
    Angenehm überrascht nahm Rebekka Heinrich die Blumen entgegen. »Oh, das ist ungemein aufmerksam. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
    »Nun ja – sehr freundlich, doch leider … leider muss ich schon wieder gehen.«
    »Wie bedauerlich«, meinte Amalie. Ihre getrübte Stimme ließ ihr wahres Befinden durchklingen, so sehr sie es auch zu überspielen versuchte. »Aber ehe Sie uns verlassen – Georgs Abreise kam für uns gänzlich unvorhergesehen . Stellten Sie ihn denn bereits vor längerer Zeit als Schiffsarzt ein?«
    Verlegen räusperte Healey sich. »Ich wusste ebenfalls nichts davon, bis er vor meinen Augen an Bord ging, Fräulein Amalie. Mr. Weaver hatte ihn verpflichtet, ohne mich ins Vertrauen zu ziehen. Wie ja sowieso seit geraumer Zeit nahezu alle Aktivitäten der Richmond-Handelsgesellschaft über meinen Kopf hinweg von Mr. Weaver und Mr. Beaulieu gelenkt werden.«
    Major Pfeyfer zog skeptisch die Augenbrauen zusammen und sah ihn so durchdringend an, dass Healey noch unwohler zumute wurde, als er sich ohnehin bereits fühlte. Beinahe schien es ihm, als taxierte ihn der Offizier wie ein Polizist einen Verdächtigen betrachtet. Schlimmer noch, Healey meinte in den argwöhnischen Blicken eine verborgene Drohung auszumachen. Deutlich spürte er, wie sein Körper unter der Kleidung von Gänsehaut überzogen wurde.
    Überhaupt beängstigte ihn die Atmosphäre. Fräulein von Rheine, die Direktorin und der Major wirkten, als hätte sich eine schreckliche Kalamität ereignet. Alles an ihrem eigentümlich gezwungenen Verhalten ließ erahnen, dass sie ihr wahres Befinden zu maskieren bemüht waren. Das stellte Healey vor ein Rätsel, aber eines, an dessen Auflösung er nicht interessiert war. Wenigstens nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.
    Abermals sprach er Rebekka seinen Dank aus und verabschiedete sich dann, nachdem er zuvor noch eine Einladung zum Kaffee an einem der nächsten Nachmittage angenommen hatte. Er hegte die Hoffnung, dass ihm dann die Umstände gewogener sein würden als an diesem glücklosen Tag.
    Nachdem er das Schulgebäude verlassen hatte, ging Healey grübelnd die Straße entlang. Die heutigen Erlebnisse irritierten ihn sehr, denn er vermochte sich die düstere Stimmung nicht zu erklären. Um eine sehr wichtige Erkenntnis war er aber nun reicher. Amalie von Rheine hatte sich im Herzen wohl noch nicht von Täubrich gelöst. Wollte er ihr Avancen machen, durfte er nicht übereilt handeln, sonst lief er Gefahr, ihren Widerwillen zu erregen und sich dadurch aller Chancen zu berauben. Er musste sich behutsam vorantasten. Das würde dauern.
    Aber er hatte ja Zeit, viel Zeit.

13. Januar
Auf dem Atlantik
    Mit ruhiger Hand zog Täubrich die lange Injektionsnadel aus dem narbenübersäten Arm. Er hatte Hendricks eine genau bemessene Dosis der Morphiumlösung unter die Haut gespritzt. Die Wirkung des Opiats würde den Kapitän einen weiteren Tag lang zumindest vor den ärgsten Schmerzen bewahren.
    Hendricks hatte den tiefen Einstich ohne jegliche Reaktion hingenommen. Bei der allerersten Behandlung war Täubrich die Unempfindlichkeit seines Patienten noch wie eine bemerkenswerte Kuriosität erschienen. Mittlerweile ängstigte sie ihn insgeheim, wie so vieles an Hendricks.
    »Nun, das wäre einmal mehr erledigt«, bemerkte er und tupfte die Einstichstelle umsichtig mit einem alkoholgetränkten Baumwollbausch ab, ehe er die Spritze in ihr samtgefüttertes Kästchen

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