Die Fahrt des Leviathan
er ihn wieder auf und stieg die Treppe zum Innenhof der Festung hinab.
Alle Boote, die der
Gazelle
als feierliche Eskorte gefolgt waren, vollführten elegante Wendemanöver und blieben zurück, als das Schiff die unsichtbare Schwelle zum Ozean überquerte. Allein Doktor Täubrich hielt seine
Aurora,
eine einmastige Segelyacht von bescheidenen Ausmaßen, unbeirrt im Kielwasser der Korvette und steuerte sein Boot in ihrem Gefolge gleichfalls hinaus auf den Atlantik. Sobald sie das Meer erreicht hatten, vergewisserte er sich zunächst, dass weder Wind noch Wellengang ein Risiko darstellten, und bot sodann Amalie an, das Ruder zu übernehmen.
Mit Begeisterung nahm die Lehrerin den Platz an der Pinne ein. Sie genoss es sofort, die Führung der Yacht innezuhaben und mit nichts als einer kleinen Handbewegung den Kurs des Bootes spürbar beeinflussen zu können. Dass ihr kräftige Böen die Frisur rasch so zerzausten, dass ihre langen blonden Strähnen wie Wimpel im Wind flatterten, kümmerte sie nicht im Geringsten. Und als ihr die eigenen Haare immer wieder die Sicht nahmen, brach sie in schallendes Lachen aus.
Noch mehr musste sie bei Täubrichs Anblick lachen, denn der Doktor mühte sich verzweifelt und mit abenteuerlichen mimischen Verrenkungen, nicht gleichfalls loszuprusten. Dass es ihm gelang, wenn auch sichtlich unter enormen Anstrengungen, nötigte ihr Respekt und auch einiges Mitleid ab. Der Arzt wusste sich nämlich nicht anders zu helfen, als sich auf die Zunge beißen, und rang so krampfhaft um Selbstbeherrschung, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen und sein Gesicht tiefrot anlief.
Unterdessen hatte die
Gazelle
Kurs in Richtung Nordosten gesetzt und nahm Fahrt auf. Eine Schleppe von schwarzem Rauch zurücklassend, dampfte sie hinaus auf den Atlantischen Ozean.
»Vale senex rex!«, rief Amalie dem Schiff nach und winkte übermütig. »Adieu, alter König! Meinetwegen brauchst du nicht wiederzukommen!«
Dieser Abschiedsgruß erstaunte Täubrich so sehr, dass er sich beinahe verschluckte und husten musste.
»Mir scheint, Sie – Sie schätzen den König nicht sehr?«, fragte er zurückhaltend und merklich bemüht, jedes Wort so vorsichtig wie möglich abzuwägen.
Amalie lachte erneut, amüsiert darüber, wie der Doktor tunlichst zu vermeiden bemüht war, durch falsche Vermutungen ihr Missfallen zu erregen. »Sagen wir, ich bin keine Bewunderin des Preußens, das er repräsentiert«, entgegnete sie.
Natürlich hätte sie noch weit mehr zu diesem Thema anmerken können. Etwa, dass sie seit ihrer Ankunft in Karolina zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl hatte, atmen zu können, der bleiernen Atmosphäre ihres strengen Heimatlandes entronnen zu sein. Für einen Besucher, der sich mit der flüchtigen Betrachtung der Oberfläche zufriedengab, mochte Karolina in fast jedem Aspekt dem fernen Kernland gleichen. Eine Miniaturausgabe Preußens mit Palmen und einigen exotischen Einsprengseln, weiter nichts. Amalie hingegen hatte längst gemerkt, dass dieses Land von einem anderen Geist beseelt war. Hier gab es keine arroganten Junker, die von ihren Gütern aus den Lauf der Zeit umzukehren versuchten; keine kleinlichen Zensoren, die mit ihren Scheren missliebige Gedanken aus den Köpfen schneiden wollten.
»Karolina ist so ganz anders als das Preußen, das ich bisher kannte«, fasste sie den Wirbel aus Empfindungen und Eindrücken in einer spontanen Eingebung zusammen. »Hier liegt Philadelphia näher als Potsdam.«
Täubrich benötigte einen Augenblick, um die ganze Tiefe der so schlicht scheinenden Feststellung zu begreifen. Dann aber ging ihm auf, wie treffend Amalie damit den Charakter Karolinas auf den Punkt gebracht hatte. »Um diese Formulierung würden sie Legionen von Historikern und Staatsphilosophen beneiden«, bemerkte er mit respektvollem Staunen.
»Nur, solange die Herren nicht erfahren, dass sie dem Kopf einer Frau entsprang«, konterte Amalie ironisch.
Eine schrill kreischende Möwe, die plötzlich dahergeflogen kam, unterbrach unversehens das Gespräch. Sie umkreiste einige Male die Mastspitze und versuchte, sich auf dem blank polierten Messingknauf niederzulassen. Doch sie rutschte immer wieder ab, bis sie schließlich der Sache überdrüssig wurde und lautstark zeternd abzog.
»Ich glaube, der Vogel wollte uns auf seine Weise daran erinnern, dass wir nicht in einem Debattierclub sind, sondern auf einem Segelausflug«, meinte Amalie belustigt. »Wenn ich mich recht entsinne, ist
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